Katrin Seddig
Fremd und befremdlich
: Pakete möchte ich nicht austragen müssen. Ich würde den Leuten ihre Pakete an den Kopf werfen

Foto: Lou Probsthayn

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Die Zustellung von Briefen und Paketen lieferte im vergangenen Jahr in Niedersachsen Anlass zu 522 Beschwerden – 62 Prozent mehr als im Jahr davor. Die meisten Menschen machen sich allerdings nicht die Mühe, sich ordentlich und an der richtigen Stelle zu beschweren. Die meisten Menschen beschweren sich stattdessen bei den Menschen, die gerade zur Verfügung stehen. Und sie beschweren sich gern im Internet. Ich habe schon sehr skurrile Beschwerden über die Zustellung von Paketen im Internet gesehen: Es gab einen Abholschein, auf dem stand als Abholhort die Postfiliale durchgestrichen, und statt dessen stand da mit dem Kugelschreiber hingeschrieben: „woanders“. Das ist nun mal wirklich lustig.

Es wird auch gern versucht, zu klären, welcher Dienst zuverlässiger sei als welcher andere. DHL oder DPD, GLS, UPS oder Hermes, es gibt da verschiedene Meinungen, und wenn es in den Medien Berichte über die Probleme mit den Zustelldiensten gibt, dann folgen als Kommentare immer Erlebnisberichte, die meist mit „Bei uns…“ beginnen. Ich denke, dass die meisten Menschen sehr froh sind, wenn sie ihren „Bei-uns-Bericht“ loswerden können. Sie fühlen sich schlecht behandelt, wenn der Zustelldienst das Paket nicht bei ihnen zu Hause abgibt, während sie selbst gerade auf der Arbeit sind.

Der Zusteller, der das Paket nicht abgeben kann, wenn der „Bei-uns-Bericht-Mensch“ auf der Arbeit ist, hat sich zu überlegen, wie er das Paket trotzdem genau diesem Menschen zustellen kann. Die erste Alternative sind meist die Nachbarn. Er muss also die Nachbarn freundlich bitten, dieses Paket anzunehmen. Wenn dieser Zusteller dieses Paket nicht bei den Nachbarn los wird, dann muss er sich weitere Alternativen überlegen oder es sogar wieder mitnehmen. So wird der Haufen Arbeit in seinem Wagen aber nicht weniger.

Da ich unter dem Dach wohne, werde ich nur um die Annahme eines Paketes für einen Nachbarn gebeten, wenn alle anderen Nachbarn, die unter mir, nicht da sind oder keine Pakete annehmen wollen. Ich nehme trotzdem einige Pakete an, weil meine Nachbarn richtig bestellwütig sind. Wenn der Zusteller dann keuchend bei mir oben angelangt ist, dann bedankt er sich sehr höflich für diese ihm erwiesene Freundlichkeit, dass ich ihm jetzt dieses Paket für meinen Nachbarn abnehme. Ich nicke gnädig, ich sage sogar, dass ich ihm einen schönen Tag wünsche. Ich komme mir gut vor, hilfsbereit: Ich habe diesem armen Kerl ein Paket abgenommen. Ich habe eine gute Tat begangen.

„Pakete“, sage ich zu meinem Freund, „möchte ich nicht austragen müssen. Ich müsste ständig andere Leute um einen Gefallen bitten, für Leute, die ich gar nicht kenne, aber so, als würden diese Leute MIR einen Gefallen tun. Das würde mich echt ankotzen. Ich käme mir am Feierabend wie ein Bettler vor. Und ich würde diese ganzen Leute echt hassen, die den ganzen Tag nicht da sind und sich dann diesen ganzen Scheiß zuschicken lassen, jeden Tag irgendwelche Pullover bestellen, die in zehntausend Verpackungen eingeschweißt sind, und die sie am Ende wieder zurückschicken, weil sie ihnen nicht gefallen. Und die Straßen sind voller Verkehr, weil diese ganzen Zustellfahrzeuge die Straßen verstopfen, und die Geschäfte müssen schließen, weil die Leute alle bestellen, bei Bestellzentren, wo die Leute in irgendwelchen riesigen, fensterlosen Hallen arbeiten, überwacht und ausgebeutet werden. Und dann beschweren sich die Leute über die Zusteller. Wenn ich Zusteller wäre“, sage ich, „ich würde ihnen diese Pakete an den Kopf werfen.“

Nun ja, ich würde ihnen die Pakete nicht an den Kopf werfen, und es gibt sehr umsichtige und freundliche Zusteller und es gibt Zusteller, die Pakete aus unerklärlichen Gründen auch dann nicht zustellen können, wenn man zu Hause ist. Aber das wirkliche Problem ist das nicht. Das wirkliche Problem ist auch kein Fehler im System, es IST das System. Es ist Ausbeutung, und dazu gehört fehlende menschliche Wertschätzung. Und wir, die wir bestellen und uns beschweren, wir gehören auch dazu, denn wir füttern es.