Bauformen
der Natur

Mit „Nautilus: Schnecken, Muscheln und andere Mollusken in der Fotografie“ zeigt die Alfred Ehrhardt Stiftung auch Fotogeschichte

Herbert List, Fortsetzung im Irrealen, Ostsee Strand, 1934 Foto: Alfred Ehrhardt Stiftung

Von Brigitte Werneburg

Das Stillleben hat in der Fotomoderne des 20. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung. Denn in diesem Genre sahen sich Natur-, Kunst- wie angewandte Fotografie gleichermaßen herausgefordert, neue Wege zu beschreiten. Neue Sachlichkeit und Neues Sehen brachten diese Herausforderung in Deutschland auf den Begriff.

Die neue Ästhetik sah in der Produktwerbung nur eine weitere Naturstudie. Sie war verliebt in Reihungen, gleichgültig ob von Bäumen, Birnen oder Bügeleisen. Sie experimentierte mit kameralosen Fotografien, mit extremen Perspektiven, der radikalen Verengung im Detail und betrachtete Pilze wie Tafelbesteck in radikaler Aufsicht. Sie nutzte die neuesten Möglichkeiten wissenschaftlicher Dokumentation und stellte zauberhafte Röntgenfotos etwa vom mathematisch exakten Spiralwachstum des Nautilus her.

Dem fotografischen Bild dieses und weiterer schalentragender Meeresbewohner ist nun eine gelungene Übersichtsschau in der Alfred Ehrhardt Stiftung gewidmet. Der Namensgeber der Stiftung ist ein wichtiger, freilich später Protagonist der Neuen Sachlichkeit. Mit seinem 1937 erschienenen Bildband „Das Watt“, in dem er die hinreißenden, vom abfließenden Wasser in den Schlick gemalten, abstrakten Geometrien festhielt, machte er sich erstmals einen Namen als Fotograf. Danach konzentrierte er sich in seinem fotografischen Schaffen auf anorganische Naturgegenstände wie Steine und Kristalle, aber auch Korallen, Schwämme, Seeigel und schließlich Conchylien, die er über 40 Jahre lang fotografierte.

Gestalterische Anregung

Ziel seiner Anstrengungen war es, den modernen Bildhauern, Architekten, aber auch Fotografen und Designern gestalterische Anregungen zu geben, wie man in seinem 1968 wieder aufgelegten Bildband „Geprägte Form. Über die Architektur der Schneckengehäuse aus allen Meeren der Welt“ lesen kann, der erstmals 1941 als „Muscheln und Schnecken“ veröffentlicht wurde. Zehn Jahre früher hatte der Hamburger Architekt Fritz Block schon zahllose Aufnahmen von Conchylien und Mollusken, also den Schalen und Gehäusen von Muscheln und Schnecken, sowie dem Kopffüßler Nautilus gemacht. Unter anderem nutzte er dazu auch die Röntgenfotografie, die es ihm erlaubte, das Konstruktionsprinzip der Gehäuse abzubilden.

Wie der Entdecker seines nachgelassenen Werkes, der Hamburger Architekturhistoriker Roland Jaeger schreibt, stehen „die Objektaufnahmen für die Dokumentation naturkundlicher Gegenstände im Sinne der Neuen Sachlichkeit“, während „die zur Abstraktion überleitenden Röntgenbilder den Beitrag der Wissenschaftsfotografie zum Neuen Sehen“ belegen. Block, der den Nautilus zunächst als Objekt fotografierte, um ihn dann im Längs- und Querschnitt aufzunehmen und schließlich zu röntgen, wollte − anders als Ehrhardt − mit seinen Bildern keine gestalterischen Anregungen geben. Ihm ging es darum, die funktionalistische These zu belegen, nach der die zweckmäßige Funktionalität der Tiergehäuse deren ästhetische Qualität mitbedingte.

Der enorme ästhetische Reiz von Schneckenhäusern und Muschelschalen hatte (nach Malern, Bildhauern und Goldschmieden) die Fotografen freilich von Anfang an gereizt. Das belegen in der Ausstellung zwei Drucke von William Henry Fox Talbot aus dem Jahr 1841, wobei er das Schneckenhaus selbst gar nicht fotografiert hat, sondern eine Lithografie.

Die neue Ästhetik sah in der Produktwerbung auch nur eine weitere Naturstudie

Mit Talbot angefangen gibt kaum einen großen Fotografen oder eine große Fotografin, die kein Muschel- beziehungsweise Schneckenstillleben aufgenommen hätten. Edward Westons Aufnahme eines Nautilus vor schwarzem Hintergrund ist eine der großen Ikonen der Fotografie des 20. Jahrhunderts, deren Vintageprint 2010 für 1,1 Millionen Dollar versteigert wurde. Das hochpolierte, glänzende Gehäuse wirkt monumental und aus seinem Innern erstrahlt Licht.

Zweimal Nautilus

In identischer Position hat auch Alfred Ehrhardt den Nautilus fotografiert, und tatsächlich lässt sich in der Ausstellung der große Unterschied der beiden Aufnahmen in der Behandlung des Lichts erkennen. Anders als bei Weston trifft es bei Ehrhardt zweimal auf die große frontale Windung des Gehäuses auf, das bei ihm im Innern stumpf bleibt. Wunderbare Stillleben mit Herzmuscheln, Helmschnecken und einer Teufelskralle stammen dann von Imogen Cunningham. 1927 legte sie die Schalen und Gehäuse auf Sand, was eine Dekade später wieder Werner Bischof und vor allem Herbert List tun, wobei sie dann surrealistisch inspirierte Szenen bauen.

Natürlich beschäftigten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Protagonisten der subjektiven Fotografie wie Otto Steinert oder Josef Sudek mit dem Conchylienstillleben. Steinerts „Stillleben mit Pfeife“ von 1958 ist ein großes Rätselbild, bei der die Lichtspiegelungen es unmöglich machen, die räumliche Situation von Jakobsmuscheln und Pfeife klar zu definieren. Aktuelle Aufnahmen wie Olivia Parkers „Moonsnails“ von 1980 oder Natascha Borowskys „Ohne Titel“ von 2008 betonen dann die erotischen Aspekte der Muschelformen, die selbstverständlich auch schon bei Weston, Man Ray oder Horst P. Horst eine wichtige Rolle spielten. Die Frauen von heute machen das aber viel entspannter, lustiger und auch direkter.

Bis 15. April, Alfred Ehrhardt Stiftung, Auguststraße 75, Di.–So. 11–18 Uhr, Do. 11–21 Uhr