berliner szenen
: Sämtliche Flaggen Afrikas

Kurz vor den Zeugnissen, die über die Empfehlung für die Oberschule entscheiden, geht es noch mal richtig rund in der 6. Klasse. Es werden Hefter, Referate und Präsentationen bewertet. Und jede Menge Tests und Arbeiten geschrieben. Jetzt gibt es die Ergebnisse. „Also, in Deutsch hab ich nur ’ne 3“, sagt das Kind beim Abendbrot. „Das mit den adverbialen Dingens konnte ich gut, aber bei Groß – und Kleinschreibung hab ich acht Fehler.“ Ich weiß nicht, ob ich mich hier schon mal kritisch zum Wissensstand Berliner Grundschüler geäußert habe. Den halte ich – zumindest im Fall meines Elfjährigen – für bedenklich.

Das Kind hat zwar ein wirklich verblüffendes Allgemeinwissen, kann problemlos alle Staaten Europas mitsamt Hauptstädten auf interaktiven Karten zuordnen, kennt sämtliche Flaggen Afrikas und alle Spielertransfers der Fifa der letzten Jahre. Gestern wusste er sogar, aus welchem Land Udo Jürgens kam. Aber Rechtschreibung gleicht mehr einem Glücksspiel. „Ist doch sowieso Irrsinn, dass man manches groß und manches klein schreibt“, unterbricht das Kind meine Gedanken. „Wir haben das halt irgendwie nie so richtig gehabt.“ Klar, schuld sind immer die anderen.

„Gudrun Ensslin hat auch immer alles kleingeschrieben“, wirft sein Vater ein, gerade als ich vorschlagen wollte, das jetzt mal verstärkt zu üben. Ich sehe mich schon beim nächsten Elterngespräch in der Schule. Das Kind wittert Morgenluft. „Wer war denn Gudrun Ensslin?“ Vermutlich hält er sie für eine Schwester im Geiste im Kampf gegen die Normen der deutschen Rechtschreibung. „Terroristin der RAF“, erkläre ich kurz. Klar, damit kann der Elfjährige was anfangen. Sagte ich schon was von umfassender Allgemeinbildung? „Wie cool“, befindet er prompt. Heute kauf ich erst mal ein Deutschübungsheft. Gaby Coldewey