„Deutlicher Rückschritt in die Siebzigerjahre“

Monika Aly kämpft seit 25 Jahren für die Integration behinderter Kinder. Angesichts knapper Kassen befürchtet sie Kürzungen im integrativen Unterricht. Ihre Sorge: Kinder könnten wieder verstärkt in Sonderschulen geschickt werden

taz: Frau Aly, Sie haben vor 25 Jahren die Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen maßgeblich angestoßen. Ist diese Integration mittlerweile „normal“ geworden?

Monika Aly: In Berlin ist es heute selbstverständlich, dass behinderte Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern aufwachsen. Wir von der Pikler Gesellschaft haben am Gesetz mitgewirkt, das seit 1990 die Integration in Kindergärten und Schulen vorsieht. Damit ist Berlin durchaus Vorreiter.

Dennoch hatten Sie anfangs auch hier mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen?

Wir mussten große Überzeugungsarbeit bei Erziehern, Lehrern, Ärzten und Eltern leisten. Alle hatten extreme Sorge, dass behinderte Kinder nicht genügend gefördert würden, aber auch dass nichtbehinderte Kinder zu kurz kommen könnten.

Wie konnten Sie diese Befürchtungen widerlegen?

Es ist hirnphysiologisch erforscht, dass behinderte Kinder von nichtbehinderten Kindern mehr lernen als von Erwachsenen. Nehmen Sie zum Beispiel eine Sondereinrichtung für nicht sprechende Kinder, wie es sie früher häufig gab. Es war ein Trugschluss zu glauben, dass Logopäden den Kindern sprechen beibringen könnten. Diese künstliche Situation hat nichts mit der Lebenswelt des Kindes zu tun. Sprechen lernen Kinder nur im Alltag. Deshalb ist es so wichtig, dass behinderte Kinder mit nichtbehinderten aufwachsen.

Nach welchem pädagogischen Konzept arbeiten Sie?

Das Konzept der Budapester Kinderärztin Emmi Pikler steht jedem Kind seine individuelle Entwicklungszeit und seinen Rhythmus zu. Wir können Normalität nicht erzwingen. Wenn ein Kind mit Downsyndrom beispielsweise aufgesetzt wird, bevor es selbst sitzen kann, braucht es seine ganze Aufmerksamkeit, um die Balance zu halten. In dieser erzwungenen Position kann es aber sein Spielen und damit sein Lernen nicht vertiefen. Es kann auch nicht eigenaktiv sein, da seine Position vom Erwachsenen abhängig ist. Jedes dieser Kinder wird sich eines Tages selbst aufsetzen, wenn seine Zeit gekommen ist.

Nach dem neuen Berliner Schulgesetz hat integrativer Unterricht Vorrang – allerdings unter Finanzierungsvorbehalt. Schöne integrative Welt also nur auf dem Papier?

Die Vorrangstellung des integrativen Unterrichts per Gesetz ist gut. Jedoch befürchte ich angesichts knapper Kassen, dass an der Förderung gekürzt wird, Stunden abgezogen oder nicht bewilligt werden. Aber wir müssen abwarten und die Auswirkungen der Reform beobachten. Wir hoffen sehr, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit weiter unterstützt wird.

Wie sehen Sie die Zukunft der Integration?

Wenn die Förderung integrativer Schulen abnimmt, werden Eltern ihr behindertes Kind wieder in die Sonderschule schicken. Das wäre ein deutlicher Rückschritt in die Siebzigerjahre. Doch nur in der Integration können behinderte Kinder lernen, sich in der Gesellschaft zu behaupten.

INTERVIEW: ALEXANDRA MÜLLER