Was ist schon normal?

Die Kinder- und Jugendambulanzen der Pikler Gesellschaft beschritten vor 25 Jahren neue Wege: Statt auf abseits gelegene Sondereinrichtungen setzten sie auf Integration. Nun wird Bilanz gezogen

Von Alexandra Müller

Langsam, ganz langsam piekst Nabil sein Fischstäbchen auf seine kleine Gabel. Es vergeht eine weitere Minute, bis der Vierjährige es in den Mund schiebt. Die anderen Kinder, die im Speiseraum der Weddinger Kita Ostergemeinde auf ihren bunten Stühlen sitzen, essen schneller als Nabil, kichern lauter und quatschen mehr. Nabil hingegen starrt still und verträumt Löcher in die Luft.

Nabil ist ein Kind mit autistischen Zügen. Er hat seinen eigenen Rhythmus. Dass er trotzdem zusammen mit „normalen“ Kindern die Kita besucht, hat er der Pikler Gesellschaft zu verdanken. Sie gründete vor 25 Jahren die erste Kinder- und Jugendambulanz Berlins mit dem Ziel, behinderte Kindern in Regelkindergärten und -schulen zu integrieren. Mit einem Symposium zieht die Gesellschaft heute Bilanz.

„Gab es 1980 nur zwei integrative Kindergärten, betreuen wir nun 150“, sagt die Gründerin, Monika Aly, stolz. In ihre Ambulanz kommen per Überweisung geistig oder körperlich behinderte, entwicklungsverzögerte, lernbehinderte, hyperaktive oder motorisch ungeschickte Kinder. Dort findet dann die Therapie durch entsprechende Kinderärzte, Psychologen, Ergotherapeuten und Heilpädagogen statt. Vor allem aber setzt Aly auf die integrative Arbeit in den Kindergärten. Ihre Therapeuten beobachten die Kinder, erteilen Einzel- und Gruppentherapien oder geben den ErzieherInnen vor Ort wertvolle Tipps. Der kleine Nabil zum Beispiel braucht wie alle autistischen Kinder feste Strukturen. An der Wand hängt deshalb ein Zeitplan zum Umklappen: 9 Uhr Hausschuhe anziehen, danach spielen, Mittag essen – alles ist genau durchgeplant.

Autisten fällt der Kontakt zu anderen Menschen schwer. Nabils Heilpädagogin, Angela Bochum, sieht aber durchaus Fortschritte. „Wenn ein autistisches Kind ein anderes fragt, ob es mit ihm spielen will, dann ist das ein wunderschöner Moment.“ Deshalb sei die Integration so wichtig. Die Erzieherin kümmert sich außerdem um entwicklungsverzögerte oder in ihrem Sozialverhalten gestörte Kinder.

Nach dem neuen Schulgesetz, seit diesem Schuljahr in Kraft, gelten solche Kinder jedoch nicht mehr als Integrationskinder. Nach Angaben von Ulf Preuss-Lausitz vom „Arbeitskreis gemeinsamer Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder“ laufen diese Kinder in der neuen zweijährigen Schulanfangsphase „normal“ im Unterricht mit. Zwar gibt es einen pauschalen Pool von zwei Stunden Integrationsförderung pro Klasse, der wird aber erst aktiviert, wenn ein Kind extrem auffällt.

„All das, was im Kindergarten an Förderung vorhanden war, wird kaputt gemacht“, ärgert sich Bochum. Ulf Preuss-Lausitz kann die Befürchtungen der Erzieher verstehen. Allerdings warnt er vor zu schnellen Urteilen und plädiert dafür, die neue Entwicklung zunächst abzuwarten.

Kenneth Frisse, Sprecher der Schulverwaltung, betont den Vorrang, den die integrative Erziehung durch das Schulgesetz erhalten hat. Außerdem gebe es das gleiche Volumen an Förderung wie bisher. Sabine Dübbers von der GEW hingegen kritisiert den Finanzvorbehalt, mit dem das Gesetz verknüpft ist: „Wenn das Geld weg ist, ist es weg. So einen Vorbehalt gibt es weder an Gymnasien noch an Haupt- oder Sonderschulen.“

Den Integrationskindern von Angela Bochum ist die Diskussion egal. Sie haben sich auf ihren bunten Matratzen versammelt und halten Mittagsschlaf. Unter ihnen ist auch Nabil.