Wellness für die Seele

Pilgern ist in, nicht nur nach Santiago de Campostela strömen Gläubige und Ungläubige. Der Ratzinger-Boom belebt die Pilgerreise nach Altötting. Ein Selbstversuch auf dem „Benediktweg“

von KRISTINA MAROLDT

Natürlich, sie nerven gewaltig. Wie sie in den Straßen vom Postkartenständer glotzen, in den Geschäften vom T-Shirt-Tisch herübergrienen und einem schließlich, nach einem versehentlichen Stoß ans übervolle Ladenregal, dreist vor die Füße plumpsen. „Das ist was ganz Besonderes“, informiert die Verkäuferin mit Begeisterung in der Stimme. „Damit kann man sich die wichtigsten Stationen immer wieder anschauen.“ Der Plastikfernseher mit per Knopfdruck wechselbaren Szenen aus dem Leben des Joseph Ratzinger, für 5 Euro 90 erhältlich im Dufek am Altöttinger Kapellplatz, ist in der Tat besonders. Besonders hässlich nämlich. Doch um ihn und seine Souvenir-Geschwister soll es in dieser Geschichte nicht gehen. Oder besser: nicht nur.

Wenn man sich auf eine „Pilgerreise auf den Spuren des bayerischen Papstes Benedikt XVI.“ begibt, kommt man an den aus Funk und Fernsehen bekannten Ratzinger-Gimmicks natürlich nicht vorbei: Hinter uns liegen zu dieser Stunde nicht nur Ratzingers einstige Wirkungsstätten München, Marktl, Traunstein und Freising mit ihren ehrwürdigen Kirchen, Kathedralen und Kapellen, sondern auch ein Bergmassiv grell beschrifteter „Papst-T-Shirts“, ein Lichtermeer von „Papstkerzen“ und ein See süffigen „Papstbieres“. Wir durften Menschen die Hand schütteln, die uns stolz versicherten, Herr Ratzinger habe dies nur wenige Jahre zuvor auch getan, sind durch die Hallen jenes Internats gewandelt, in dem sich der kleine, etwas schwächliche Joseph dereinst mit aller Kraft gegen den Sportunterricht sträubte, und haben ehrfurchtsvoll durch die Glasscheiben von Geburts- und Wohnhaus des neuen Kirchenoberhaupts gelinst. Zum Glück gibt es auf dieser Tour weit mehr zu entdecken. Unerwartetes. Da lässt sich ein wenig Personenkult schon mal verkraften.

Altötting, Mittagszeit. Seit zwei Tagen befinden wir uns nun also auf Pilgerfahrt. Kurioserweise auf einer, die nach strenger Definition eigentlich gar keine ist. Der, dessen Spuren wir folgen, hat bisher weder Wunder vollbracht, noch handelt es sich um einen Heiligen. Es ist einfach nur der Papst, freilich der erste deutsche seit rund 500 Jahren. Und da Benedikt XVI. zum Glück für die bayerische Tourismusbranche den bislang größten Teil seines Lebens in einer der hübschesten und zugleich frommsten Ecken Deutschlands verbracht hat, in der nicht nur die Sommerfrische, sondern auch das Wallfahren von jeher Tradition hat, heißt eine Kulturreise entlang päpstlicher Wirkungsstätten der Einfachheit halber eben gleich mal „Pilgerreise“.

Vielleicht haben die Erfinder der Touren und Wanderkarten, die jetzt, ein Vierteljahr nach der Papstwahl, auf den Markt drängen, aber gar nicht so Unrecht: Wenn man Pilgern weniger als religiöse, sondern einfach nur als besinnliche Reise entlang kirchengeschichtlichen Stationen auffasst, passt der Begriff einwandfrei. Schließlich gehört das südostoberbayerische Eck zwischen Inn und Salzach zu einer der kloster- und kirchenreichsten Gegenden Deutschlands. Benediktiner, Zisterzienser, Franziskaner und Augustiner wussten die sanften Hügel und verwunschenen Seen des Alpenvorlands schon vor Jahrhunderten zu schätzen und ließen sich hier nieder. Wer hier also „auf den Spuren des Papstes“ wandelt, bekommt neben dem überfüllten Geburtshaus in Marktl, dem vergleichsweise verwaisten Studienseminar in Traunstein und anderen Papststationen auch einige Jahrhunderte Kirchen(bau)geschichte und eine beeindruckende Naturkulisse mitgeliefert.

Es sind auch eher die papstfernen Entdeckungen, die Angebote wie die fünftägige Rundreise oder den „Benediktweg“ so reizvoll machen: der prachtvolle Freisinger Dom etwa oder die reich geschmückte Dorfkirche. Der hinter einer Wegbiegung versteckte Badesee oder das sich urplötzlich ausbreitende Panorama der Alpen. Man wandert und radelt und staunt und träumt – und begreift bald, warum die Gegend schon vor dem Papst-Hype eine besondere Anziehungskraft auf Pilgerreisende ausübte: Zwischen der barocken Pracht von Landschaft und Bausubstanz kann man sich einfach wunderbar die Sorgen des irdischen Daseins aus der Seele wallfahren.

Das tun jährlich bereits über eine Million Pilger. Nicht wegen des Papstes, muss man gerechterweise ergänzen, sondern wegen der „Schwarzen Madonna“ in der Altöttinger Gnadenkapelle. Manches Mal sicher auch wegen der hoch über der Salzach gelegenen Rokoko-Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt in Marienberg.

Ähnlich wie in Lourdes oder Santiago de Compostela versammelt sich in Altötting täglich ein bunter Haufen aller möglichen Nationalitäten, Altersgruppen und Motivationen – der in letzter Zeit auffällig an Masse gewinnt. Vom Frühgottesdienst bis zur abendlichen Lichterprozession treffen die Wallfahrer ein, zu Fuß, zu Pferd, per Fahrrad oder Motorrad. Die meisten aus Deutschland, seit dem schicksalhaften 19. April sind aber auch wieder mehr papstbegeisterte Italiener und Polen dabei. Schließlich war Ratzinger hier selbst oft als Pilger oder Prediger zu Besuch – wodurch sich das Reisemotto für den wallfahrenden Papsttouristen nahezu perfekt erschließt.

Es ist halb elf Uhr abends. Die Souvenirgeschäfte auf dem Kapellplatz sind geschlossen, auch das Dufek hat die Läden zugeklappt. Stille liegt über dem Platz, die Pilger sind zu Bett, der Gottesdienst beginnt morgen um 6 in der Früh. Hell strahlt der Vollmond über die Fassaden – und bringt einen auf kühne Gedanken. Ob man nicht mal versuchen sollte …? Und, ja, es funktioniert: Gegen das Mondlicht gehalten, zeigt sich der Bilderbogen des kürzlich erstandenen Plastikfernsehers in seiner ganzen kitschigen Pracht. Doch, o Wunder: Es nervt ausnahmsweise kein bisschen.

Touren, Karte, Wege: Auf den Spuren des bayerischen Papstes Benedikt XVI.: Fünftägige Pilgerreise mit Stationen u. a. in Altötting, Traunstein, Marktl, München und Freising. Die Tour kann man als Gruppenreise buchen oder auf eigene Faust losziehen. Infos zu den einzelnen Stationen unter: www.benediktweg.info Die Karte dazu kann man im Internet bestellen: www.inn-salzach.com Pilgerradwege nach Altötting: Radwanderkarte mit Tourenvorschlägen, die alle zum Wallfahrtsort Altötting führen, zu bestellen unter: www.inn-salzach.com/shop/docs/pi-1250627094.htm