: Schreiben mit dem Blick des Kindes
Er hätte den Nobelpreis verdient gehabt:Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld ist am Donnerstag in Jerusalem gestorben
Von Katharina Granzin
„Aharon Appelfeld lebt in Jerusalem“, steht als letzter Satz im Klappentext seines neuen Romans „Meine Eltern“, dessen deutsche Übersetzung kürzlich erschienen ist. Dieser Satz wird in künftigen Auflagen all seiner Bücher geändert werden müssen. Aharon Appelfeld ist am 4. Januar 2018 in Jerusalem gestorben. Er wurde 85 Jahre alt, und den Nobelpreis hat er nie bekommen. Das kann auch daran liegen, dass aus seinem über vierzig Romane umfassenden Werk kaum etwas ins Schwedische übertragen wurde. Auch in Deutschland ist dieser einzigartige Autor bei Weitem nicht so bekannt, wie es ihm gebührt hätte, und wurde erst spät übersetzt. Der Rowohlt Verlag hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt sehr verdient darum gemacht, den Publikationsrückstand aufzuholen.
Aharon Appelfeld schrieb nicht in seiner Muttersprache. Seine Muttersprache war das Deutsche, seine Großmuttersprache das Jiddische, seine Heimat die schöne Stadt Czernowitz in der Bukowina. Alles wurde ihm genommen, als er zehn Jahre alt war. Die Mutter wurde ermordet, den Vater verlor er im Lager, in das beide verschleppt worden waren und aus dem der Junge fliehen konnte. Er versteckte sich in den Wäldern, überlebte durch Handlangerdienste für Ganoven und fand als Küchenjunge Aufnahme bei der Roten Armee.
Mit vierzehn Jahren kam er nach Palästina und fand dort ein anderes Leben und eine neue Sprache vor, die er sich beide mühsam erarbeiten musste. Seine ziemlich unglaubliche Überlebensgeschichte erzählt Appelfeld in „Geschichte eines Lebens“, jenem seiner Bücher, das einer Autobiografie am nächsten kommt. Es war ihm aber eine ständige (und wahrscheinlich nicht unbegründete) Sorge, dass sein Werk vor allem im engen Kontext der Holocaust-Erinnerungsliteratur rezipiert werden und somit in seiner literarischen Eigenart nicht angemessen wahrgenommen werden könnte.
„Ich schreibe keine Erinnerungsliteratur“, betont er daher auch in „Meine Eltern“: „Das Bewahren und Erhalten von Erinnerungen ist ein antikünstlerischer Ansatz.“ Er schreibe mit dem „geheimen Blick des Kindes“, so formuliert er es, mit dem er „durch die Dunkelheit der vergangenen Jahre“ breche. In dieser Umschreibung des kreativen Prozesses deutet sich das Attribut an, das zuerst in den Sinn kommt, sollte man gebeten werden, Aharon Appelfelds Prosa anhand von Adjektiven zu beschreiben: visionär. Während aber Visionen sonst in aller Regel auf eine noch unbekannte Zukunft gerichtet sind, lässt Appelfeld eine Welt wiederauferstehen, die für immer vergangen ist, die es aber einst so oder eben fast genauso gegeben haben muss.
Aharon Appelfeld
Diese Visionen können beinahe märchenhafte Züge annehmen, wie in seinem Roman „Auf der Lichtung“, der den Überlebenskampf einer jüdischen Widerstandsgruppe in den Karpaten schildert. Sie können überaus lebendige Charaktere erstehen lassen, wie im Roman „Katerina“, der vom Leben eines einfachen ukrainischen Dienstmädchens im Kriegswirrwarr erzählt. Und sie können aus winzigen Erinnerungsschnipseln eine ganze Welt entfalten.
In „Meine Eltern“ erschafft Aharon Appelfeld jene sommerliche Ferienwelt neu, die er im Sommer 1942 am Ufer des Flusses Pruth erlebt haben muss, als er zehn Jahre und sieben Monate alt war, und die er kurz darauf verlor. Dass ihr Ende sich schon andeutet, vom Jungen aber noch nicht erahnt werden kann, ist Teil von Appelfelds großer Kunst. Die Welt der Eltern, so wie sie in diesem Roman lebt, ist noch ganz. Sie mag brüchig sein, ist im geheimen Blick des Kindes aber wunderschön.
Dass Aharon Appelfeld in seinem letzten Roman genau dorthin zurückgekehrt ist, macht unser aller Welt insgesamt zwar nicht heil, aber doch ein winziges Stück besser, als sie vorher war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen