: Der Tag der Spielverderber
Leverkusen und Schalke überbieten sich gegenseitig im Herausspielen und Auslassen guter Chancen. Die „temporären Erscheinungen“ auf der Trainerbank zeigen sich dem Spitzentreffen verbal würdig
AUS LEVERKUSEN BERND MÜLLENDER
Es ist eine der unschönen Eigenheiten des Fußballs, dass das Regelwerk ein Unentschieden erlaubt. Das Remis bestraft Mannschaften, die wie ihr Gegner hingebungsvoll und versiert auf Sieg spielen und am Ende nur mit ziemlich leeren Händen da stehen. Am Samstag hatten beide Kontrahenten – der frühere Abo-Vize Leverkusen wie der aktuelle Vizemeister Schalke – 1:1 verloren und jeweils ungerechterweise zwei Punkte hergeschenkt. Und konnten sich, solange es nicht über eine B-Note die Möglichkeit zu jeweils drei Punkten gibt, nur damit trösten, eine Menge Augenweidendes abgeliefert zu haben.
Schalke in Bestbesetzung hatte von Beginn an leichtfüßig, technisch auf Toplevel und überlegen attackiert, Leverkusens Rumpfelf (ohne sieben malade oder gesperrte Stammkräfte) erfolgsgierig verteidigt und immer auf Sieg gekontert. Chancen im hohen Karatbereich gab es reichlich, zeitweilig wären Protokollanten nur als Diplomstenografen mitgekommen. Ein hinreißender Fußballnachmittag, und alle sagten nachher, das Spiel „hätte auch 3:3 ausgehen können“, manche sprachen auch vom potenziellen 4:4 oder 5:5.
Aber es war der Tag der Spielverderber. Die hießen Butt und Rost und sind ihrer Elfen Linienwarte. Sie boten grandiose Flugeinlagen und Pantersprünge, blitzschnelle und -gescheite Reflexe. Dazu hielten sie je einen Elfmeter, einmal sehr spektakulär (Jörg Butt im gewohnt gelben Sweater) und einmal ziemlich spektakulär (Frank Rost in kohlenstaubweißem Schlafanzug).
Bayer Leverkusen ist gar nicht gut in die Saison gestartet. Erst vier Punkte aus vier Spielen, der schlechteste Start seit 23 Jahren, da kriecht Nervosität auf. Zwei Mal hat es schon Rot gegeben, die Disziplin stimmt nicht. Auch beim Sportchef nicht: Rudi Völler war zuletzt in Wolfsburg mal wieder Islandartig ausgerastet. Und Manager Holzhäuser drohte schon: „Der Trainer ist eine temporäre Erscheinung.“ Die Wonnenzeiten der Champions League sind ohnehin vorbei. Im Mai hatte Bayer gerade so den Uefacup geschafft. Über ZSKA Sofia als Gegner am Donnerstag freut sich nur der regelmäßige Torschütze Dimitar Berbatov, weil das sein Heimatclub ist.
Berbatov verschoss den Elfmeter für Bayer, machte seinem Namen als Chancentod einfacher Gelegenheiten wieder alle Ehre und legte dann aus „Wut über sich selbst“ alles in jene Zweikampfkaskade mit der gesamten Schalker Abwehr in der 73. Minute – und traf. Elf Minuten danach torte Simon Rolfes in seinem ersten 90-Minuten-Erstligaeinsatz. Aber er stand dabei in einer Art plötzlich aktiviertem Passivabseits. Die Stadionjubelhymne donnerte schon im Rund, Rolfes jubelte, Gegenzug, Flanke, Ausgleich durch Schalkes Sören Larsen (85.).
So groß der „hohe Unterhaltungswert für die Zuschauer“ (Trainer Ralf Rangnick) auch war, das Zulassen von Torchancen für den Gegner ist immer Anlass zur Selbstrüge. „Wir müssen in der Abwehr besser stehen, wenn wir weiter nach oben wollen“, so Frank Rost. „Unser Defensivverhalten hat mir gar nicht gefallen“, so Rangnick. „Die Ordnung hat gefehlt, die Abstimmung hinten“, so Augenthaler. Beide temporären Erscheinungen auf der Trainerbank zeigten sich dem Spitzentreffen verbal würdig. Rangnick, weil er Fremdworte jenseits von hochsterilisieren kennt und sogar fehlerfrei benutzt, sprach seiner Elf schwer soziologisch „ein Problem in der Interpretation von Rollen“ zu. Und Augenthaler, der niederbayerische Analytiker, ist auf dem Weg zum Herberger-Wiedergänger: „Fußball“, referierte er, „ist a Kampfsport. Er ist nur schön, wenn du nachher ausgepumpt in der Kabine sitzt und einen Verband brauchst. Nicht wenn du nach zehn Minuten geduscht und gefönt vor der Tür stehst.“
Die letzten seiner Elf kamen, auffallend strubbelig ungefönt, erst über eine Stunde nach Spielschluss aus dem „medizinischen Bereich“ der Bayer-Katakomben geschlurft. Da hatte Ralf Rangnick schon den halben Weg ins 180 Kilometer entfernte Eindhoven hinter sich, wo der PSV, am morgigen Dienstag Gegner im ersten Champions-League-Spiel, zu beobachten war. International, das wissen alle Fußballer, wird Fahrlässigkeit in der Rolleninterpretationsproblematik besonders schnell bestraft.
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