Spinnen über Amerika

Tweedy spricht! Sichtbar ergriffen von der Begeisterung seines Publikums, bietet der Sänger von Wilco an, sich in Amerika zum Präsidenten wählen zu lassen. Eine hübsche Übertreibung, die mit einem T-Shirt-Kauf belohnt wird

Zu spät! Leichte Panik bereits im Herannahen an den Postbahnhof: Viertel nach acht und Wilco spielen bereits. „Vielleicht ist es ja nur die Vorgruppe“, versucht die Begleitung noch zu beruhigen, aber man hat den Song gleich erkannt, „Handshake Drugs“, von der Australian EP, die sich Fans einfach so (das heißt nach einem mathematisch anspruchsvollen Rechenverfahren mit der Artikelnummer ihrer letzten CD) von der Wilco-Homepage herunterladen konnten.

Also nichts wie rein, auch wenn Darling Heike Makatsch sympathischerweise ebenfalls zu spät ist und noch unschlüssig am Eingang steht. Der Saal ist, für die Statistiker, gut gefüllt, ein auffallend junges Publikum, die Stimmung prächtig. Viele Mädchen, die Bandleader Jeff Tweedy sehnsüchtig anstarren, als er jetzt seinen Beziehungsstillstand-Song „At least that’s what you said“ anstimmt: „You thought it was cute for you to kiss my purple black eye, even if I caught it from you“. Es bleibt ein komisches Gefühl, diese Musik, die im Wesentlichen von der Rückbesinnung auf sich selbst handelt, im Konzert als begeisterungs- und gemeinschaftsstiftendes Element zu erleben.

Tweedy – sicherlich der beste Singer/Songwriter seiner Generation, wenn Alternative Country eine Sportart wäre – gilt eigentlich als genialisch-sensibler Eigenbrötler Dylan’schen Ausmaßes. Hier und heute entlädt sich die ganze Entfremdung aber in immer wieder über die Songs hereinbrechenden Gitarren-Gewittern und Noise-Orgien. Die Band, die Jeff Tweedy wie ein Bundesliga-Manager heuert und feuert und in der Bassist John Stirrat das letzte verbliebene Gründungsmitglied ist, spielt perfekt zusammen und liefert ein mitreißendes Set, auch wenn jeder für sich spielt.

Im Mittelpunkt steht dafür ein in jedem Augenblick konzentrierter Tweedy, der den ganzen Abend um das hypnotisch krautrockende „Kidsmoke“ aufbaut, den besten Song des letzten Wilco-Albums „A Ghost is born“. Der ganze Saal wippt mit zu Tweedys düsterer „Minority Report“-Vision eines bürokratisch hocheffizient von Spinnen verwalteten Amerikas: „Spiders are singing in the salty breeze / Spiders are filling out tax returns / Spinning up webs of deductions and analogies / On a private beach in Michigan“.

Nach der Loser-Hymne „Misunderstood“, dessen selbstironisches „You still love rock ’n’ roll“ von den „Yeah“-Johlern im Publikum vielleicht ja auch nur selbstironisch dazu genutzt wird, ekstatisch die Faust in den Postbahnhof-Himmel zu recken, probt die Band allerdings bereits um 21.15 Uhr erstmals den Abgang. Pause. Und nach dieser Pause geschieht das Wunder: Tweedy spricht! Sichtlich ergriffen von der nicht abreißenden Begeisterung im Saal, lässt sich der Chicagoer erstmals zu ein paar Zwischenansagen hinreißen.

So weist er nach dem Song „Kingpin“ darauf hin, dass man doch bitte würdigen solle, dass er die Zeilen „I wanna be your kingpin / Living in Pekin“ nicht zum Publikums-Ranschmeißer „Living in Berlin“ missbraucht habe, obwohl das für Rockstars so verlockend wie Käse für Mäuse sei. Oder er widmet einen neuen Song, der wie eine fröhliche Beatles-Parodie klingt, kurzerhand „peace and friendship“ und bietet dem Publikum an, es möge doch bitte irgendeinen Weg finden, Wilco als neue US-Regierung einzusetzen. Denn: „We are nice. We are not like those guys!“

Das ist nicht nur schön, sondern auch schön übertrieben. Und eine deutlich angenehmere Art, mit einem schwer verknallten Publikum umzugehen, als es vor einem halben Jahr beispielsweise Bright Eyes mit tumben Michael-Moore-Parolen taten. Somit gelingt Wilco an diesem Abend nicht nur eins der besten Konzerte der Saison, sondern auch noch ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der deutsch-amerikanische Freundschaft.

Dieser Text endet damit, dass der Verfasser sich nach dem Konzert erstmals seit 1987 wieder ein Tour-T-Shirt gekauft hat. Vor dem Verkaufsstand stand eine lange Schlange von Mitbürgern der Vereinigten Staaten von Wilco. ANDREAS MERKEL