Paradies mit Verspätung

Ein Fingerbad im Ozean aus Honig, ein Flirt auf der Melone und das Schlachten einer Ananas: Die diesjährigen Tanztage beginnen sinnlich und fantasiereich

Szene aus „Around the World“, eine Kooperation mit dem Untimely Festival TeheranFoto: Katerina Andreou

Von Astrid Kaminski

Fruchtsäfte tropfen vollmundig auf das Gesicht eines Ruhenden, den Kopf hat er in den Schoß einer Nymphe gebettet. Er müsste sich nur leicht drehen, den Mund öffnen und die Säfte des Paradieses in süß die Lippen benetzenden Tröpfchen in sich aufnehmen. Doch weh! Drehte er sich wirklich, so erwachte er auch aus seinem Schlaraffenlandschlummer und sähe, was wir sehen: Die Nymphe hat keine Tischsitten. Was der Garten Eden nur so hergibt, stopft sie in ihr Schleckmäulchen, halbe Orangen auf einmal, Melonenschlitze von einer Größe, wie sie eine Gebissstarre auslösen können. Was da auf den Ruhenden niederrinnt, ist, was aus dem übervollen Mund herausleckt, frisch gepresst, das schon, aber derart mit Speichelfluss gestreckt, dass der Fruchtsaftgehalt die Fünfzigprozentmarke nicht überschreiten dürfte.

Die Tanztage, der traditionelle Nachwuchsreigen der global vernetzten Berliner Tanzszene, gehen dieses Jahr in die 27. Ausgabe, und auch wenn nicht alles so paradiesisch anmutet wie „What’s to come“ von Asaf Aharonson und Team, so sind die ersten Tage wieder prall wie eh und je – vor allem, was Publikumszustrom und die Überziehung der Umbaupausen angeht. Rekord in diesem Jahr: Das Paradies beginnt eine geschlagene Stunde später als angekündigt. Nicht immer liegt das an der Dispo. Auch Tanzlust dehnt die Zeit.

So tanzt Joy Alpuerto Ritter, die die Tanzstile wechselt wie Zeus oder Krishna die Frauen, doppelt so lang wie angekündigt, und auch Sara Mikolai dehnt ihre Suche nach der weiblichen Urkraft im südindischen Bharatanatyam-Tanz auf bei den Tanztagen unbekannte Ausmaße für ein Solo aus. Es ist ja nicht unkompliziert, wer da wen liebt im altindischen Sanskritgedicht Gita Govinda. Radha, die geliebte Krishnas, sucht nach dem absoluten Lover, aber letztlich scheint es mit Sakhi, der Personifizierung der weiblichen Urkraft, um die Frage der Selbstliebe zu gehen.

Mikolais Finger durchqueren auf dieser Suche „einen Ozean von Honig“, was so anmutig ist, dass es nicht nur der Tänzerin ein Lächeln der Glückseligkeit aufs Gesicht zaubert. Einzig die Verwirrung über das projizierte Stationendrama, das sich auf einem zur Pergamentrolle getrimmten Flipchart zwischen Bollywood und Miniaturkunst abspielt, erzeugt Runzeln. Zudem Infografiken, die nicht mehr als dramaturgische Schleifchen sind und der lyrischen Grundstimmung in „Sakhi 03.04“ etwas unnötig Seminarhaftes verleihen.

Ganz anders im eingangs beschriebenen „What’s to come“, das auf der Grundlage des Essays „Eros the Bittersweet“ von Anne Carson erarbeitet wurde. Statt content werden hier Stimmungen extrahiert und Assoziationen gewuchert. Ein paradiesisches Mahl wird für die Ewigkeit auf Eis gebettet serviert, was den so Bedienten in Weinkrämpfe ausbrechen lässt, der Tanz auf der Weltkugel in Form einer Melone zum Flirt mit dem Publikum, und wenn es dämmert, wachsen den Körpern am Kopf und aus dem Anus heraus funkensprühende Hirschgeweihe und Schwänze. Ein würdiges Revival für übrig gebliebene Silvester-Wunderkerzen.

Das kommende Tanzjahr verspricht vor allem eines: knallbunt zu werden

Was „Sakhi 03.04“ und „What’s to come“ verbindet, ist die Magie. Hier jene des Eros, der Ahnungen, Wünsche und innere Bilder sichtbar macht, die ohne ihn im Verborgenen blieben, dort der feinmaschige Tanz der Hände, der die ungeahnte Ressourcen von Sinnlichkeit und ätherischen Verknüpfungen im Fingerspiel lebendig macht.

Zurück zum Fruchtsaft. Rein fließt er im „Tanzatlas“ von Helen Schröder + Die Neue Kompanie. Göttergleich wählt das junge Kollektiv aus 8.956 gesichteten Tänzen, die an einem Abend in einer Zeitzone der Welt aufgeführt werden, die „relevantesten“ und lässt Showgirls in Choruslines zappeln, dass einem selbst das monströseste Spektakel menschlicher Ornamentik wie ein Sturm im Wasserglas vorkommt. Inszeniert werden sie mit Haushaltsgegenständen wie Wäscheklammern auf schwarzer Folie als horizontales Puppentheater, das als Projektion an die Wand geworfen wird. Höhepunkt des Höhepunktreichen ist das Schlachten einer Ananas alias Leguans zu einem vorverlegten Frühjahrsritual von den Bahamas.

Wären die Tanztage ein Orakel auf den Tanzatlas des kommenden Jahres, dann verspricht er vor allem eines: knallbunt zu werden. Und zur Abwechslung auch mal tief in die Dunkelkammer der Gefühle abzutauchen wie in Zwoisy Mears-Clarkes „Subjects of Positions“, wo das künstlich umnachtete Publikum ohne Unterschiede des Ansehens Bewegung am eigenen Leib erspürte. Flügelschlagen und Rückenmassage. Lassen wir, wie hier geschehen, ein paar verhobene politische Messages und ein grandioses Drum-’n’-Dance-Duo unter den Tisch fallen, liegt ein Jahr magischen Tastens und Fühlens vor uns.