berliner szenen
: Die Angst kommt zum Japaner

Anderntags beim Japaner. Die Belegschaft hat sich befleißigt, überall Schilder hinzuhängen: Vorsicht, Taschendiebe. Vermutlich haben die Taschendiebe einmal zu oft die Gelegenheit genutzt, dass die Gäste ihre Plätze verlassen mussten, weil ihr ferngesteuerter Timer sie zur Es­senausgabe holte. Jetzt also die Warnung vor dem unbekannten Bösen. Die Frage ist, denke ich beim Shio-Ramen, ob die Atmosphäre nicht freier wäre, wenn es diese Schilder nicht gäbe. Vielleicht verhindern diese Schilder den einen oder anderen Diebstahl. Vielleicht sorgen sie aber nur dafür, dass die allgemein herrschende Angst sich auch in diesem Raum breitmacht.

Eine Frau in einem Schottenrock und einem hellgelben Ostfriesennerz geht an meinem Tisch vorbei. Außerdem trägt sie schlangenhauthafte, kobrahaft gemusterte Strumpfhosen. Sie hält an der Tür, die nach innen öffnet, draußen ihr Freund. Sie umarmen sich im Regen. Das Verschwinden in offene Regenmäntel. Nass werdendes Nylon. Er hält sie im Arm, sie hält sich den Bauch. Eine andere Frau sitzt ihrem Freund gegenüber. Beide Mitte zwanzig. Sie wechseln vom Spanischen ins Deutsche und wieder zurück. Die Rechnung überlässt sie wie selbstverständlich ihm.

Zwei Models, die sich einen Stehspiegel gekauft haben, suchen einen Sitzplatz am Fenster. Sie unterhalten sich darüber, welches Verhalten creepy ist und welches nicht. Eine Frau mit Pagenkopf und Brille kommt ­herein, stellt ihren Geigenkoffer auf einem Stuhl ab und mustert die Speisekarte, die sie fortlaufend mit meinem Essen abgleicht. Als sie später über ihrer Suppesitzt, checkt sie gleichzeitig ihr ­Smartphone und schmatzt.

Die neue Gleichzeitigkeit! Davor sollte vielleicht gewarnt werden. Auf großen Schildern, in lateinischen und japanischen Buchstaben. René Hamann