Gaza nach 38 Jahren Besatzung geräumt

Israel erklärt Besatzungszeit für beendet. Letzte Truppen sollen Gaza heute verlassen. Die verbleibenden Synagogen werden von den Israelis nicht abgerissen. Ihre Zerstörung widerspricht jüdischem Recht. Im Gaza-Streifen wächst die Sorge vor Unruhen

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Ohne großartige Zeremonien endet nach 38 Jahren die israelische Besatzung des Gaza-Streifens. Noch nicht einmal eine Art „Schlüsselübergabe“ soll es geben, wenn der letzte Soldat heute Abend das so lang umkämpfte Gebiet verlässt. Die Palästinenser boykottierten eine Teilnahme an dem zunächst vereinbarten Festakt aus Zorn über die Schließung des palästinensisch-israelischen Grenzübergangs Rafach für sechs Monate. Auch die gestrige Entscheidung der israelischen Regierung, die Synagogen nicht abzureißen, löste alles andere als Jubel auf palästinensischer Seite aus.

Premierminister Ariel Scharon ziele darauf ab, so spekulierte der palästinensische Minister für Flüchtlingsfragen, Sufian Abu Saida, „der Welt die Palästinenser als Barbaren vorzuführen“. Die Autonomiebehörde könne „keine Verantwortung“ für den Erhalt der Synagogen übernehmen. Für den palästinensischen Verhandlungschef bei früheren Friedensgesprächen Saib Erikat bestand von vornherein „keine Notwendigkeit“, bei der Übergabezeremonie teilzunehmen, da es sich bei dem Abzug aus dem Gaza-Streifen um „eine unilaterale Angelegenheit Israels handelt“.

Geplant war ein mehr oder weniger formaler Akt am Grenzkontrollpunkt Erez, bei dem detaillierte Pläne des Wasser-, Abwasser- und Stromsystems in Gaza übergeben werden sollten.

Im südlichen Grenzgebiet begann die ägyptische Polizei zunächst 200 Grenzschützer zu stationieren. Bis Donnerstag sollen die insgesamt 750 ständig postierten Polizisten entlang der so genannten Philadelphia-Route zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten ihren Einsatz beginnen. Dazu gehört vor allem das Abfangen von Waffenschmugglern.

Eine offizielle Zeremonie nur mit israelischer Beteiligung sollte am Abend in der größten jüdischen Siedlung Newe Dkalim stattfinden. Dutzende Aktivisten der Friedensbewegung „Schalom Achschaw“ erwarteten die heimkehrenden Soldaten auf der israelischen Seite des Kontrollpunkts Kissufim. Sechs Bataillone mit je rund 500 Soldaten waren bislang im Gaza-Streifen stationiert, um die Grenze nach Ägypten und zu den jüdischen Siedlungen zu bewachen.

Die Bilanz der 38 Jahre Besatzung im Gaza-Streifen ist vor allem für die Armee schmerzlich. Ende 1987 begann die erste Intifada. Hunderte Soldaten wären vermutlich heute noch am Leben, hätte die damalige Regierungschefin Golda Meir auf ihren Verteidigungsminister gehört. Moscha Dajan warnte schon im Vorfeld des Sechs-Tage-Krieges 1967 nur nicht den Gaza-Streifen zu besetzen. Damals lebten dort 350.000 Flüchtlinge. Heute sind es viermal so viele Palästinenser.

Auf die palästinensischen Sicherheitskräfte wartet nun eine schwere Aufgabe. Die Situation in Gaza gerät zunehmend außer Kontrolle. Erst vor wenigen Tagen fiel der ehemalige Sicherheitschef Mussa Arafat in die Hände von Milizen, die ihn vor den Augen seiner Familie erschossen. Am Wochenende besetzten Aktivisten der Al-Aksa-Brigaden Büros der Autonomiebehörden und forderten ihre Rekrutierung in den Sicherheitsapparat. Dabei dürften die Gehälter nicht unter der Bezahlung der Offiziere liegen.

Ebenfalls am Wochenende wurde der italienische Journalist Lorenzo Cremonesi, der für die Tageszeitung Corriere Della Sera arbeitet, entführt, als er ein Interview mit dem Kommandanten der Al-Aksa-Brigaden führte. Der palästinensische Präventive Sicherheitsdienst nahm umgehend Verhandlungen mit den Entführern auf. Cremonesi kam wenige Stunden später wieder auf freien Fuß. Vor dem Hintergrund innerpalästinensischer Auseinandersetzungen war es in den vergangenen Wochen wiederholt zu Geiselnahmen von Ausländern gekommen. Bislang endeten diese unblutig. Der Verband der Auslandskorrespondenten in Tel Aviv protestierte gegen die Entführung und forderte die verschiedenen Parteien dazu auf, „bedingungslos die Rechte der Journalisten zu respektieren, damit sie sicher ihrer Arbeit nachgehen können“.

In der im südlichen Gaza-Streifen gelegenen Stadt Khan Younis begannen mit einer Militärparade erste Jubelfeiern nach dem Abzug. Für die nächsten Tage sind weitere Festmärsche in der Stadt Gaza geplant.