Diese Sängerin ist hassenswert schön

Irene Diwiak hat mit ihrem Debütroman „Liebwies“ eineäußerst unterhaltsame Kulturbetriebssatire geschrieben

Bitterböse Kritik an der Kulturindustrie: Irene Diwiak Foto: Heribert Corn/Deuticke

Von Carsten Otte

Liebwies – so heißt zunächst einmal ein kleines Dorf in den österreichischen Alpen, und die Geschichte, die Irene Diwiak in ihrem gleichnamigen Debütroman erzählt, beginnt 1924, also in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als ein alter Musiklehrer namens Walther Köck ebenjene Ortschaft am Rande der Zivilisation aufsucht, weil er den Niedergang der KuK-Welt endgültig hinter sich lassen möchte. In der alpinen Einöde nimmt Köck nicht nur den Schulbetrieb wieder auf, er entdeckt auch die 19-jährige Karoline, die wegen einer Sehbehinderung nicht auf dem Feld arbeiten, aber außergewöhnlich gut singen kann.

Der alte Lehrer, der blind vor Liebe zu sein scheint, ist davon überzeugt, dass sein Schützling das Zeug zur großen Sängerin hat. So bittet er seinen alten Freund, den Musikexperten und Mäzen Christoph Wagenrad, nach Liebwies zu kommen. Doch Wagenrad, der sich noch nicht vom Tod seiner Frau erholt hat und selbst wiederum taub vor Sehnsucht nach dem Schönen ist, interessiert sich leider gar nicht für das hässliche Entlein mit der fabelhaften Stimme, sondern vielmehr für die schöne Schwester Gisela, die allerdings nicht singen kann. Trotzdem versucht er Gisela zur Star-Sängerin aufzubauen. In einem schon damals äußerst perfide funktionierenden Kulturbetrieb funktioniert das natürlich, wenn man denn die Mechanismen kennt.

Der Leiter des Konservatoriums, ein Jude, wird unsanft auf sein Judentum hingewiesen, und da das antisemitische Denunzieren in der präfaschistischen Epoche ein probates Mittel ist, um sich Menschen gefügig zu machen, wird auch eine Nichtsängerin zur Sopranistin ausgebildet, entwickelt sich aus der schönen Gisela, die fortan so heißen wird wie ihr Heimatdorf, eine große Künstlerin, deren Größe freilich nur darin besteht, ihre Größe ostentativ zu inszenieren. Sogar eine Abschlussoper wird der erfolgssüchtigen Narzisstin geschrieben. „Die Gräfin der Stille“ heißt das Werk, und natürlich sagt der Titel alles. Gisela muss nicht viel singen, sondern darf in stiller Schönheit vom Publikum bewundert werden, was die Zuschauer dann auch tun.

Irene Diwiak: „Liebwies“. Deuticke, Wien 2017, 335 Seiten, 22 Euro

A star is born! Bitterböse und klug unterhaltsam beschreibt Irene Diwiak den unaufhaltsamen Aufstieg der Frau, von der es an einer Stelle heißt, sie sei „hassenswert schön“. Und sie belässt es nicht bei dieser amüsanten Erfolgsgeschichte, sondern erzählt ein Paralleldrama, das ebenfalls von Hochstapelei handelt.

Die Frage ist nämlich, wer die durchaus hörenswerte Oper über die stille Gräfin geschrieben hat. Ein patriarchaler Angeber namens August Gussendorff reklamiert das Werk für sich, aber die Noten stammen aus der Feder seiner Frau Ida, die heimlich komponieren muss, weil ihr das der dummdreiste August verboten hat. Von einem ehelichen Zusammenleben kann man aber ohnehin nicht sprechen, denn Ida liebt Frauen – und auch sie verfällt dem Liebreiz der Sängerin, die nicht singen kann.

Irene Diwiak, 1991 in Graz geboren, studiert derzeit Komparatistik in Wien. Ihr Debüt „Liebwies“ zeichnet sich durch eine selbstbewusste auktoriale Erzählperspektive aus und einen stilsicheren Wechsel von ernsten und witzigen Passagen. Diwiak präsentiert eine wendungsreiche Geschichte mit überraschenden Plotpoints, und dabei formuliert sie eine sehr zeitlose Kritik an jenem Erfolgsmodell, das später, mit Theodor W. Adorno gesprochen, Kulturindustrie heißen sollte. Aufsteigen darf in diesem auf Affirmation getrimmten Künstlermilieu, wer Beziehungen hat, sich politisch und ästhetisch nicht querstellt, mit körperlichen Reizen auftrumpfen kann und die Chuzpe hat, sich brachial am Markt durchzusetzen.

Aufsteigen darf, wer sich nicht querstellt und die Chuzpe hat, sich brachial durchzusetzen

Im Rückblick relativiert sich zuweilen manch kometenhafte Karriere. Auch wenn die Erzählerin am Ende des Romans eher pessimistisch klingt: „Später würde die Geschichte anders erzählt werden. Man würde sagen, Gisela Liebwies wäre schon immer eine strahlende Persönlichkeit mit außergewöhnlicher Stimme gewesen, die ihr Dorf wie ein Stern erleuchtet und an deren Zukunft als berühmte Sängerin niemand je gezweifelt hatte.“

Oder eben doch. Denn das ist die letzte metakritische Volte dieses stimmigen Romans: Diwiaks Text stellt nämlich den Gegenbeweis zum Pessimismus der Erzählstimme dar. Literatur, wenn sie so kraftvoll daherkommt, mag auch als Korrektur der herrschenden Geschichtsschreibung dienen.