Übernachtung auf eigene Gefahr

AUS PARIS DOROTHEA HAHN
UND SYLVIE FRANÇOISE (FOTOS)

Die Nummer 10 in der rue de Tanger ist eine jener Pariser Adressen, die in Westafrika bekannt sind. In den Armenvierteln von Senegal, Elfenbeinküste und Mali wird sie als „point de chute“ weitergereicht. Als Anlaufpunkt für jene, die nach Paris gehen wollen und eine erste Unterkunft brauchen. Es ist ein „Squat“. Ein besetztes Haus. Bewohnt von afrikanischen Familien. Auf den sechs Etagen des Hauses leben manchmal mehr als 100 Personen.

Auf dem Trottoir sitzt eine Frau auf einer verbeulten Metallkiste. Neben sich einen elektrischen Heizlüfter, eine ölgefüllte Heizrippe, zwei Kochplatten und drei große Plastiktaschen mit Decken und Kleidern. Fluchend hat sie ihren Besitz vom fünften Stock auf die Straße getragen. Sie wohnte am längsten in dem Haus. Als sie vor 18 Jahren einzog, war es noch ein Hotel. „Das war picobello hier“, sagt sie, „du konntest vom Fußboden essen.“ Jetzt huschen Ratten über die kleinen Mosaiksteine auf den Gängen und die durchgetretenen hölzernen Stufen der Wendeltreppe. Die Farbe des Stoffs, mit denen die Wände im Treppenhaus bespannt sind, lässt sich nicht mehr erkennen. Nur die Nummern an den Zimmertüren erinnern noch an früher. Auf dem Trottoir nimmt die Frau Abschied von ihren Nachbarinnen. Als einzige trägt sie europäische Kleidung. Die Frauen um sie herum sind in afrikanische Bubus gekleidet. Die kleinen Kinder haben sie auf den Rücken gebundenen. Am liebsten würden alle die rue de Tanger verlassen. Aber wohin?

Seit im August bei zwei Bränden in von Afrikanern bewohnten Häusern in Paris 17 Menschen ums Leben gekommen sind, herrscht in der rue de Tanger und anderen ähnlichen Häusern Aufregung. Die Stadtverwaltung hat vor drei Jahren ermittelt, dass es 1.000 baufällige, aber bewohnte Häuser in Paris gibt. Manche sind besetzt. Andere vermietet. 423 davon gelten offiziell als „extrem gefährliche Bruchbuden“. Sie haben brüchige Mauern, improvisierte Elektroinstallationen und Blei in den Wandfarben. Inzwischen hat die Polizei angefangen, die Häuser zu räumen.

„Wir haben doppelt Angst“

Ab Einbruch der Dunkelheit stehen Männer auf dem Trottoir vor der Nummer 10 rue de Tanger. Sie wachen. Ihr Haus ist eine der 423 „Bruchbuden“. Wie die beiden im August ausgebrannten Häuser. „Wir haben doppelt Angst“, sagt Tunani aus dem dritten Stock: „vor Feuer und vor der Polizei.“ Dienstagmorgen war wieder ein Polizeiinspektor im Haus. „Ist es so weit?“, haben ihn Bewohner gefragt. „Heute noch nicht“, hat er geantwortet, „aber demnächst.“ Wenn Tunani morgens zur Arbeit in einer Lagerhalle in der Vorstadt geht, verlassen auch seine Frau und das zwölf Monate alte Baby das Haus. Je nach Witterung verbringen sie den Tag bei Freunden oder im Park. „Nachts kann es hier brennen“, sagt der 33-Jährige, „aber tagsüber kann jederzeit die Polizei kommen.“

Ein Schwarzweißfoto von Fatumata mit dem Baby – beide von hinten – ist der einzige Wandschmuck in Zimmer Nummer 36. Tunani lebt versteckt. 2001 verließ er die Elfenbeinküste. „Wegen des Krieges“ gab es für ihn kein Auskommen mehr in der Hafenstadt Abidjan. Drei Jahre danach wird sein Asylantrag in Frankreich abgelehnt. Seither haben weder er noch seine mauretanische Frau Fatumata eine Aufenthaltsberechtigung. Die beiden, die sich in Frankreich kennen gelernt haben, können deswegen auch nicht heiraten. Ihr einziges gemeinsames Papier ist die Geburtsurkunde der Tochter. Der Vater bewahrt sie in einer Tasche auf, die er immer bei sich trägt. Zusammen mit anderen wichtigen Dokumenten: Telefonrechnungen, Arzt-Rezepte, ein abgelehnter Asylantrag und die Eröffnung eines Postkontos. Wem es gelingt, den Behörden einen zehnjährigen Aufenthalt im Lande nachzuweisen, der kann auf Papiere hoffen. Aber wer vorher erwischt wird – und sei es nur einen Tag vor Ablauf der zehn Jahre –, der ist „papierlos“ und riskiert die Abschiebung. Seine gesammelten Dokumente sind dann nichts mehr wert. Er muss von vorne anfangen.

Über die türkis gestrichenen Wände von Zimmer Nummer 36 huschen Kakerlaken. Von der einzigen Toilette auf der Etage weht beißender Geruch herüber. Beim Eintreten in das, was er „mein Haus“ nennt, schaltet Tunani den Fernseher an. Der Apparat steht auf dem Mikrowellenherd, der auf dem Eisschrank steht. Auf dem Waschbecken daneben stapeln sich Kleider und Windeln. Fließend Wasser gibt es schon lange nicht mehr. Die Bewohner holen es in Plastikeimern von einer Pumpe auf der Straße. Wenn Tunanis Familie und der Landsmann aus der Elfenbeinküste, der mit ihnen zusammenwohnt, ihre Matratzen zum Schlafen ausbreiten, ist in dem sieben Quadratmeter großen Raum kein Platz mehr für den Plastikhocker. Nachts kommt er auf den Fernseher.

Die gemischte Sozialwohnungsgesellschaft SIEMP hat von der Stadt Paris den Auftrag bekommen, für die Instandsetzung der Bruchbuden zu sorgen. Notfalls mit Enteignungen. Für ihre Arbeit hat sie 152 Millionen Euro für sechs Jahre. Das ist viel Geld. In den vergangenen drei Jahren hat die SIEMP damit unter anderem 148 Bruchbuden erworben, deren Eigentümer sich trotz staatlicher Hilfen weigerten, zu sanieren. Darunter die Nummer 10 an der rue de Tanger. Doch der Kauf ist bloß der Anfang. Vor dem Beginn der Instandsetzung sind Ersatzunterkünfte nötig. Daran scheitert es. Erstens fehlen in Paris Sozialwohnungen. Und zweitens darf niemand – auch der Staat nicht – an Papierlose vermieten. In drei Jahren konnte die SIEMP nur 543 Familien umsetzen. Von 2.000, die in den amtlich erfassten Bruchbuden leben.

„Ich könnte alle unterbringen“

René Dutrey, grüner Politiker, der auch im Stadtrat sitzt, verwaltet das Dilemma an der Spitze der SIEMP. Seit den Bränden in zwei Bruchbuden, von denen er eine kurz zuvor aufgekauft hatte, ist Dutrey in die Offensive gegangen. Der linken Stadtverwaltung wirft er vor, dass sie viel zu zaghaft bei der Wohnungsbeschaffung vorgeht und dass sie nichts gegen die Immobilienspekulation in Paris unternimmt: „Wenn die Stadt nur 1.500 der leer stehenden Wohnungen beschlagnahmen würde, könnte ich alle Familien in Not unterbringen.“ Dem rechten Innenminister und seinem Pariser Polizeipräfekten wirft Dutrey vor, dass sie die Legalisierung von Papierlosen blockieren und dass sie, als einzige Antwort auf die tödlichen Brände vom August, die Bruchbuden räumen wollen. „Skandalös“, schimpft er, „das macht unsere vertrauensbildende Arbeit von mehreren Jahren zunichte. Und treibt die Familien in andere, noch gefährlichere Squats.“ Für Innenminister Nicolas Sarkozy ist die Wohnungsmisere kein Thema. Als langjähriger Bürgermeister von Neuilly, der reichsten Gemeinde im Großraum Paris, hat er sie selbst mitorganisiert. Neuilly stellt statt der gesetzlich vorgeschriebenen 20 Prozent nur 2,5 Prozent Sozialwohnungen bereit. Als „Ausgleich“ zahlt die Gemeinde symbolische Strafen in die Staatskasse.

Bei Dambo im 3. Stock muss die ganze Familie aufstehen und die Matratze hochhalten, um Platz zum Öffnen der Zimmertür zu machen: Vater, Mutter und die drei in Paris geborenen Kinder, der fünfmonatige Sohn Ibrahim und die Töchter Fantandi (5) und Gundo (4). Als Tellerwäscher in einem französischen Restaurant, das er als „schick“ beschreibt, verdient Dambo 600 oder 700 Euro im Monat – „je nachdem, ob der Patron nett ist“. Ausgezahlt wird in bar. Dambo hat keine Papiere. Er bekommt kein Kindergeld. Und er hat keine Sozialversicherung. Mit 41 Jahren hat er keine Zähne mehr im Oberkiefer. Er ist vor zwölf Jahren aus dem Senegal nach Frankreich gekommen. Seine Frau Nassiré vor sechs. Sie bewahrt die Dokumente der Familie in einer Kunstledertasche auf, die direkt hinter der Tür hängt. Bevor sie in das matratzengroße Zimmer an der rue de Tanger kam, dachte sie, „in Europa hat man Rechte, anders als in Afrika“. Heute weiß Nassiré mehr: „Ohne Papiere bist du nichts“.

„Die Franzosen haben uns kolonisiert. Als sie gegangen sind, war Afrika ausgeplündert. Deswegen sind wir hier“, sagt Fofana aus dem Zimmer Nr. 30, „nicht etwa, weil wir Frankreich so toll fänden.“ Der 31-jährige Arbeiter aus der Elfenbeinküste hat lange überlegt, ob er mit Journalisten sprechen soll. Aber er weiß genau, was er von Frankreich will: „Papiere, Arbeit und eine Wohnung.“ Nach den Bränden hat Fofana den Besitz seiner Familie zu Freunden in Sicherheit gebracht: den Fernseher, das Elektroöfchen für den Winter und die Kleider. Bis Ende August lag das alles in Kisten unter der Matratze. Seither liegt die Matratze auf dem Fußboden. Wenn Fofana, seine Frau Dioncunda, die beiden Töchterchen Suntu und Khargné und zwei Nachbarskinder darauf hocken, wirkt ihr Zimmer immer noch größer als die Nachbarräume. Aus ihrem Fenster geht der Blick auf einen winzigen Hinterhof, in dem sich alte Bettgestelle, Matratzen, Plastikflaschen und Babywindeln stapeln. „Wenn es bei uns brennt, sind wir verloren“, sagt Fofana. Die Feuerwehr hat keinen Zugang zu den Hinterhöfen.

Paris hat in diesem Sommer viel Geld für die Stadtverschönerung ausgegeben. Millionen für die Olympia-Bewerbung. Millionen für die alljährliche Aktion „Paris-Plage“, bei der tonnenweise Sand für drei Wochen Strandvergnügen an die Seine gekarrt wird. Die hässliche Seite ihrer Stadt kennen die meisten Pariser nicht. Für das Elend in Bruchbuden wie der Nummer 10 an der rue de Tanger im 19. Arrondissement haben die Pariser nicht einmal ein französisches Wort. „Squat“ ist Englisch.