Im gelobten Land

Kälte, eine fremde Sprache, so viele Regeln. Trotzdem ist für den elfjährigen Ahmed und seine irakischen Landsleute Deutschland das Paradies

■  Flucht: Nach der US-Invasion im Irak 2003 sind rund zwei Millionen Iraker nach Syrien und Jordanien geflohen. Die EU-Innenminister beschlossen im November 2008, dass sie bis zu 10.000 als besonders schutzbedürftig eingestufte Flüchtlinge außerhalb des regulären Asylverfahrens aufnehmen. Deutschland stellte dies 2.500 Flüchtlingen in Aussicht.

  Aufnahme: Von den 1.800 Irakern, die bislang aus Syrien und Jordanien nach Deutschland gekommen sind, sind ein Drittel jünger als 16 Jahre. Gut die Hälfte der Flüchtlinge sind Christen, 400 gehören der religiösen Minderheit der Mandäer an.

  Arbeit: Die Flüchtlinge bekommen nach Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Diese gilt für zunächst drei Jahre. Wenn sie keine Arbeit finden, können sie Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen. (seb)

AUS ERFURT SEBASTIAN ERB

Die älteren Jungs, die cooleren, werden wieder einmal zu spät sein, aber er ist schon da. Erst albert Ahmed ein wenig herum, als die Lehrerin kommt, setzt er sich auf seinen Plastikstuhl. Ahmed, schmächtige Statur, sympathisches Grinsen, Segelohren, geboren am 17. 3. 1998 in Bagdad, will schnell Deutsch lernen. Er möchte das Beste aus seinem neuen Leben machen.

Die Jeans verdecken halb seine Turnschuhe, auf seinem T-Shirt ist ein Inlineskater abgebildet. Neben ihm sitzt Saif, dem sieht man nicht an, dass er auch schon fast elf Jahre alt ist. Saif würde jetzt gerne Memory spielen, darf er aber nicht. Er muss jetzt lernen, wie oft das A in Apfel vorkommt. Und wie man M-a-m-a schreibt. Saif spielt mit seinem Arbeitsblatt und schaut mit großen Augen durch das Stanzloch die Lehrerin an. Die sagt: Legt eure Mäppchen bitte parallel zur Tischkante.

Die Chancen für Ahmed und Saif, ihre Familie und die Landsleute aus dem Irak, dass ihr neues Leben ein gutes wird, stehen nicht schlecht. Besser als bei anderen Flüchtlingen, Asylbewerbern etwa. Sie haben eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre, bekommen Hartz IV und sie dürfen arbeiten.

Die acht irakischen Kinder zwischen 10 und 15 Jahren besuchen die Lessingschule, Haupt- und Realschule unter einem Dach, bekommen dort fünf Stunden pro Woche extra Deutschunterricht, acht Stunden Kurs gibt der Internationale Bund. „Es ist schwierig mit ihnen“, sagt die Lehrerin, „sie verstehen ja nichts. Und sie sind so unruhig.“ Schulterzucken. „Man weiß ja auch nicht, was sie durchgemacht haben.“

Ein vierstöckiges Haus, von der Straßenseite Klinker natur, im Hof weiß angestrichenen. Auf den Klingelschildern stehen russische Namen, im Treppenhaus, das eine Grundreinigung nötig hätte, Aushänge auf Russisch. Bisher lebten hier nur Russen, seit ein paar Wochen auch vier Familien aus dem Irak. „Übergangswohnheim für Flüchtlinge“, der Name passt: Hier will man nicht für immer bleiben. Ahmed läuft in den zweiten Stock, im Appartement 22 wohnt er mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Schwestern. Ein Raum, zwei Schränke versperren die Sicht auf die Betten. Obenauf stehen die Koffer, mit denen sie am 12. August auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen ankamen. Ahmeds Familie, bei den Behörden ist sie Fall Nr. 12552.

Auf der Fensterbank stehen Blumen. Ahmeds Mutter hat alles so schön eingerichtet, wie es eben geht. Sie ist Mitte 30, glattes Gesicht, schlichtes Kopftuch. „Alles in Ordnung hier“, sagt sie. Sie klingt zufrieden. Sie will zufrieden klingen.

Vor nicht allzu langer Zeit war gar nichts in Ordnung. Ahmeds Mutter arbeitete in der „Grünen Zone“ Bagdads für eine US-Firma. Da verdiente sie viel, zuletzt 1.000 Dollar im Monat. An einem Tag, als sie von der Arbeit nach Hause kam, warteten 15 bewaffnete Männer. Sie sagten: Wenn du nicht aufhörst für die Amerikaner zu arbeiten, bringen wir deine Familie um. „Einmal, als ich Brot kaufen ging, hat einer auf mich und die anderen Leute geschossen“, erzählt Ahmed. „Aber zum Glück ist mir nichts passiert.“ Pause. „Ein Schuss ging ganz knapp vor meinem Gesicht vorbei.“ Dann schweigt er. Seine Schwester drückt ihm eine Barbiepuppe in die Hand. Er gibt sie ihr gedankenverloren zurück.

Bombe im Büro

Seine Mutter zeigt Fotos, ausgedruckt auf DIN-A4-Blättern. Man erkennt einen umgestürzten Schreibtischstuhl, ein Loch in der Decke, Schutt. Sie haben eine Bombe ins Büro geschmissen, zum Glück ist sie nicht explodiert. „Es war für uns alle sehr gefährlich, dort zu arbeiten.“ Sie hat das oft erzählt. Sie musste es oft erzählen, um hierher zu kommen. Um mit ihrer Familie zu den 2.500 irakischen Flüchtlingen zu gehören, zu deren Aufnahme sich die Bundesregierung verpflichtet hat.

Die Mutter berichtet, wie schiitische Milizen die Wohngegend umzingelten, mit Baseballschlägern auf die Leute eindroschen und 25 Männer mitnahmen. Zwei Onkel von Ahmed waren am Ende tot. Erschossen. Die Mutter redet sich in Rage, schildert Gräueltaten, die der Dolmetscher irgendwann nicht mehr übersetzen will.

2006 flüchtete die Familie nach Syrien. Arbeit gab es für Iraker in Damaskus nicht, das Geld vom UNHCR reichte gerade so zum Überleben. Sie stellten den Antrag beim UN-Flüchtlingshilfswerk. Sie warteten. Die Antwort: Kanada oder Deutschland. Deutschland sagte zuerst zu. Wenn Ahmed an den Tag erinnert wird, an dem sie hier ankamen, fängt er an zu weinen. Er muss an seinen Vater denken und seine Großeltern, die in Syrien geblieben sind. Die Wunden, die so langsam verheilen, können jederzeit wieder aufbrechen.

Dann lieber im Heute leben. „Die Lehrer sind so nett hier“, sagt Ahmed, das hat ihn überrascht. „Im Irak haben sie die Schüler auch geschlagen.“ Dass er fast nichts versteht im Unterricht, findet er nicht so schlimm. Dann redet er eben mit Händen und Füßen. Den Sportunterricht mag Ahmed am liebsten. Wenn er ein Tor schießt, jubeln ihm alle zu. Im Irak durfte er nicht im Freien spielen. Zu gefährlich. In Syrien hat es seine Mutter auch nicht so gern gesehen, dabei ist Fußball seine Leidenschaft. Er ist Fan des FC Barcelona, besonders von Lionel Messi, „weil der so schnell ist“.

Wenn man Ahmed zu Hause besucht, begrüßt einen gleich sein Nachbar, der Vater von Saif, Ahmeds Freund aus dem Deutschkurs. Der Nachbar heißt Saad, ist Anfang 40, freundlich forsch, sein grauer Vollbart gestutzt. Saad hat seinen Weg gefunden, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Er präsentiert sie den Besuchern. Kommen Sie rein, sagt er, geht auf seinen Sohn zu, fasst ihn, so wie ein Schäfer sein Lamm fasst. Er rollt seine Hose hoch. Narben am Bein. Ärmel hoch. Narben an den Armen. Narben am Bauch, Narben am ganzen Körper. Saif schaut nur leicht gequält und sagt nichts.

2005 wurde Saif entführt, sagt sein Vater, er wurde gefoltert, sexuell missbraucht, mit Batteriesäure übergossen, verätzt. Deshalb die Narben. So steht es auch im Protokoll der Untersuchung, die ein UN-Arzt vor dem Abflug nach Deutschland durchgeführt hat. Der Arzt attestierte Saif ein „heftiges psychologisches Trauma“. Es gibt die zwei Seiten des Jungen, gerade war er noch das fröhliche Kind, dann malt er, in sich zurückgezogen, Bilder in dunklen Farben. Das alles sprudelt aus seinem Vater heraus, ungefragt, als wolle er damit sagen: Seht her! Wir haben einen guten Grund, hier zu sein.

30.000 Dollar Lösegeld

Seine Familie, seine Frau, er und die fünf Kinder, gehört den Mandäern an, einer monotheistischen Religionsgemeinschaft, deren Ursprünge irgendwann in der Zeit vor Johannes dem Täufer liegen. Im Irak werden die Mandäer wie die Christen verfolgt. Saad glaubt, dass sein Sohn deshalb entführt wurde. Dann erwähnt er noch das Lösegeld, 30.000 Dollar. Dafür ging die Wohnung drauf.

Er rollt seine Hose hoch. Narben am Bein. Ärmel hoch. Narben an den Armen

Saad hat sich beruhigt, seine Frau bringt Orangenlimo und Kekse. Die Mädchen brennen Räucherstäbchen an, Saif spielt mit einem Zauberwürfel. Bundeswehr-Wolldecken liegen auf dem Boden, die Wand ist kahl. „Es ist eine Gnade Gottes, hier sein zu dürfen“, sagt Saad.

So schnell es geht, will er wieder arbeiten. Aber natürlich muss er zunächst Deutsch lernen, der Kurs beginnt bald, ein paar Wörter kann er schon. Guten Morgen, Tisch, Stuhl, Donnerstag, Montag. Er lacht. Und irgendwann wird er auch die seltsamen deutschen Regeln verstehen. Vor kurzem musste er 20 Euro Strafe zahlen, weil er auf dem Marktplatz eine Zigarettenkippe auf den Boden geworfen hat.

Die Erfurter Polizei kennt die Iraker inzwischen. Ein Kind zerkratzte eine Autotür. Die Nachbarn beschweren sich regelmäßig über Lärm. Einmal musste die Polizei drei kleine Kinder, die weggelaufen waren, wieder einsammeln. Sie hatten keine Schuhe an. Es hatte ihnen keiner gesagt, dass man in Deutschland nicht ohne Schuhe nach draußen geht, schon gar nicht im Herbst.

Die irakischen Familien kamen für viele in Erfurt überraschend. Die Schule hatte plötzlich acht neue Schüler, als das neue Schuljahr längst begonnen hat. Sie improvisiert. Wenn es Streit gibt zwischen den deutschen und den irakischen Schülern, fällt es den Lehrern schwer, zu schlichten. Denn sie sprechen kein Arabisch und der Dolmetscher kommt nur einmal die Woche. Die Diakonie versucht zu koordinieren, was Stadt, Schule und der Internationale Bund auf die Beine stellen. Sie sucht Ehrenamtliche, die sich um die Familien kümmern. Von deren langem Atem wird es abhängen, ob aus der Fluchtgeschichte eine Erfolgsgeschichte wird. Die Leiterin des Wohnheimes hat sich ein Arabisch-Wörterbuch gekauft, 37.000 Stichwörter. Zwei hat sie gelernt: Schule und Guten Tag.

Ahmed und seine Mutter müssen los, ihren Laptop von der Reparatur abholen, damit sie den Vater wieder übers Internet anrufen können. Er ist geschieden von seiner Frau, aber allen immer noch nah. Fast jeden Tag sprechen Ahmed und seine Schwestern mit ihm. Sie erzählen ihm alles. Dass es in Deutschland kalt ist. Wie schön es ist, Straßenbahn zu fahren, vom Besuch im Zoo. Und immer fragen sie: Wann kommst du endlich?

Ahmed käme nicht auf die Idee, große Pläne zu schmieden. Aber er hat einen Traum. Wenn er groß ist, will er Ingenieur werden. Und wo will er arbeiten? Der Junge lächelt, es ist ein ehrliches Lächeln, und er antwortet so schnell auf diese Frage wie auf keine andere. Er sieht aus, als denke er: Welch bescheuerte Frage. „In Deutschland“, sagt er.