Marthaler am Schauspielhaus Zürich: Schweizer Beziehungskrise
Der verstoßene Sohn Christoph Marthaler kehrt zurück ans Schauspielhaus – mit einem Stück über Superreiche und Schweizer Traditionen.
Ungefähr zur Halbzeit der Inszenierung greift Ueli Jäggi zum Mikrofon und singt das Publikum mit leicht bohrendem Blick an: „Ich glaub, ich weiß, wie dir zumute ist. Im Teufelskreis, wo du gefangen bist.“ Spätestens beim Refrain dieses mit Lebensweisheit nicht geizenden Udo-Jürgens-Schlagers – „Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient, wer alles will, muss viel von sich geben, wer nichts riskiert, hat sein Glück nur geliehn“ – steht noch einmal sehr deutlich das schwierige Verhältnis der Stadt Zürich zu dem Theaterkünstler Christoph Marthaler im Raum.
Zumal Ueli Jäggi denselben Song erst Anfang November performt hat, als der Kunstpreis der Stadt Zürich an ihren verstoßenen Sohn verliehen wurde. „Mir nämeds uf öis“, wir nehmen’s auf uns : Vielleicht hat Marthaler seine erste Inszenierung am Schauspielhaus seit seinem Rauswurf 2002/3 („die Stadt Zürich trennt sich vorzeitig“) ja auch nach einem Stoßseufzer konzipiert, der ihm angesichts dieses neuen Anlaufs entfuhr?
Seine letzte Zürcher Arbeit brachte er 2007 ausdrücklich in der ex-autonomen Spielstätte Rote Fabrik heraus und nicht bei seinem Nachfolger am Schauspielhaus, Matthias Hartmann. Angesichts von dessen Wirtschaftsmethoden und Vertragsansprüchen an der Wiener Burg konnte man sich retrospektiv schon mal fragen, ob die Stadt Zürich bei ihm, anders als bei Marthaler, vielleicht nicht so genau hingeschaut hat.
Der zusammen mit Stefanie Carp 1999 ans Schauspielhaus geholte Regisseur hatte es in den drei Jahren seiner Intendanz zwar zweimal geschafft, dass das Haus zum „Theater des Jahres“ gekürt wurde, und noch heute schwärmen Schauspieler und Theaterfans von der vibrierenden Atmosphäre dieses künstlerischen Aufbruchs; doch der Erfolg rechnete sich aus Sicht des Verwaltungsrats nicht, da das alte Schauspielhaus „Pfauen“ zu wenig bespielt wurde.
Das Publikum wurde jünger und hipper
Das Zentrum des Theaters verschob sich in den (an Sitzplätzen kleineren) Schiffbau am damals noch roughen, heute gentrifizierten Escher-Wyss-Platz, wurde mithin jünger und hipper. Dorthin wollte oder konnte ihm die zahlungskräftige Stammklientel nicht so rasch folgen. Marthalers Nachfolger Hartmann und Barbara Frey haben den Spagat zwischen dem Betontraum Schiffbaubox und dem Tortenstück Pfauen besser hinbekommen – sie wussten ja, zu welch schwarzpädagogischen Maßnahmen die Stadt greifen kann.
In seinem Zürcher Comeback-Stück nach 15 künstlerisch äußerst produktiven und erfolgreichen Jahren, in denen Marthaler regelmäßig in Berlin, Hamburg und Basel, aber auch an verschiedenen europäischen Opernhäusern inszenierte, steht deshalb folgerichtig – immerhin muss eine schwere Beziehungskrise aufgearbeitet bzw. neu befeuert werden – die Stadt Zürich im Zentrum.
Oder, poetischer gesprochen, das „Mir nämeds uf öis“-Staatswesen, das die mit Schuld beladenen und von Steuerbehörden verfolgten Großverdiener aus aller Herren Ländern mit offenen Armen empfängt, gegen gute Gebühr entlastet und den Fortgang der Geschäfte gewährleistet, mit und auch mal ohne Unterstützung der Kunst.
Shoppingsüchtige Wohlstandsleichen
Wie immer haben Marthaler und Dramaturg Malte Ubenauf einen locker-fantastischen Situationsrahmen gezimmert, der den Liederabend zusammenhält und sich schon oft bewährt hat, zuletzt in den „Wehleidern“ am Schauspielhaus Hamburg, wo ein paar smartphone- und shoppingsüchtige Wohlstandsleichen in einer Flüchtlingsturnhalle auf Entzug gesetzt wurden.
Nachdem ein Lautsprecher aus einem Kabinentrolley erklärt hat, dass „Anonymität“ die wichtigste Prämisse dieses Staatswesens sei, ruft Chefsteward Bernhard Landau nur Vornamen zum Boarding für den Flug auf, mit dessen „Hülfe“ sich die Klient*innen vor ihren irdischen Verfolgern verdrücken. Sie treten einzeln und mit bizarr-komischen, leider gar nicht mal aus der Luft gegriffenen Unternehmensprofilen auf die Vorbühne: Gottfried Breitfuss als „Gerd K.“ etwa, Baulöwe aus dem Salzburger Land, der dem Wiener Richard „Mörtel“ Lugner samt seiner Vorliebe für Models verdammt ähnlich sieht, Nicolas Rosat als „Dino S.“, ehemaliger Medienreferent der Fafi, ein Sepp-Blatter-Wiedergänger, Nikola Weisse als tragische Alleinerbin („Ich habe das nicht gewollt“) eines „global operierenden Unternehmens für Briefkastensysteme“, Raphael Clamer als „Urs H.“, der ein „Start-up für karrierevernichtende Shitstormattacken“ betrieben hat, und so weiter.
Sobald das Boarding completed ist, öffnet sich der Vorhang zu Duri Bischoffs (Bühnenbild) cremefarbener Kreuzung aus ödem Konferenzsaal und Raumschiffcockpit. Gelegentlich fahren vorne zwei Klaviere hoch und runter, die im Wechsel mit zwei Keyboards von dem musikalischen Leiter Bendix Dethleffsen und dem Pianisten Stefan Wirth traktiert werden.
Untergangsschändung
Erstmals und wiederholt lässt Marthaler viel wagnerianisches Treuelob singen, vor allem den Pilgerchor aus „Tannhäuser“; zwischendurch lockern Elton John, Mendelssohn-Bartholdy und ein Vivaldi-Medley für Keyboards die Düsternis. Und wenn Tora Augestad, die den Flug als „Kulturhologramm“ versüßt, mit Engelsstimme Wagners „Eveningstar“ geradezu Kate-Bush-haft verjazzt, ist das die schönstmögliche Untergangsschändung.
Im Wechsel mit den Musikeinlagen tritt auch jeder der schwerreichen Passagiere nochmals in den Vordergrund. Raphael Clamer sinniert über „Stürme aus Scheiße“ und rattert ein Alphabet der Anglizismen herunter, das die Kolleg*innen rhythmisch aufgreifen: „Bouncen beachen buzzern bleachen!“, Bernhard Landau hält ein kryptisches Fachreferat über den „Ereignishorizont“ und wirbt als „Dr. Rill“ für ein Medikament, das alle dunklen Wolken auflöst – „jedoch, es gibt kein solches Präparat. Heute nicht und morgen auch nicht“, und Gottfried Breitfuss als Autor des „Kreditknigges“ findet: „Ein Heiligenschein passt nicht zum Bau.“ Das alles ist ein bisschen böse, aber auch sehr hübsch.
Ex-Schlachthauskönig Jean-Pierre Cornu nimmt Ueli Jäggi, der hier für den erkrankten Siggi Schwientek einspringt, die Beichte ab, das Wasser auf einem südamerikanischen Landstück privatisiert und zu „Edelwasser“ umetikettiert zu haben, weshalb es leider lokal zu teuer geworden sei. Statt einer Absolution erteilt Pater Cornu den Vorschlag, einen neuen Vertriebszweig mit von ihm geweihtem Wasser zu eröffnen: „Das gäbe eine 900-prozentige Gewinnspanne!“
Schweizer Geldprominenz wie Ackermann und Ospel
Schließlich, und hier wird es wieder besonders Zürich-spezifisch, marschiert das Ensemble zum Sechseläuten rund um Jean-Pierre Cornu als qualmenden Böögg (eine Art Schneemann, der bis heute im Frühjahr verbrannt wird), während Susanne-Marie Wrage als reizende „Charity“-Geldwäscherin 7 Billionen Spendenfranken einsammelt – eine Verhohnepipelung des Zürcher Brauchtums in der Tradition der Zünfte, die einst die ökonomische Kraft der Stadt stellten. Über dem Spendenmarsch flimmern Gesichter über einen Videoscreen – zumindest einige davon zeigen Schweizer Geldprominenz wie Bankmanager Josef Ackermann, Marcel Ospel (von UBS) und Daniel Vasella (Novartis).
An dieser Stelle könnte es richtig konkret und damit auch ernsthaft böse werden – aber weil auch viele No-Name-Faces mit über den Bildschirm flackern, kann von einem ernsthaften Täterblaming à la Paradise Papers dann doch nicht die Rede sein. Den Trick, einen Kreis von Leuten in eine Art Isolationskur zu schicken, wendet Marthaler ja immer wieder an, zuletzt etwa in den „Wehleidern“ in Hamburg. Hier konnte, sollte, musste sich das Publikum, bei aller Liebenswürdigkeit der Bloßstellung, mit den Shoppingsüchtigen leichter identifizieren. Im hellauf begeisterten, lang applaudierenden Pfauen-Premierenpublikum fühlte sich jedenfalls keiner gemeint – die wirklich Üblen, das sind ganz ohne Zweifel die anderen.
Aber was kann die Kunst daran schon ändern? Marthaler endet so liebenswürdig wie illusionslos: Tora Augestads Kulturhologramm krepiert erbärmlich zu Michael Jacksons „Man in the Mirror“, und ein Pappmaschee-Ausblick in die Welt von Morgen zeigt, dass nur niedliche Koloss-Kalmare das „Digizäum“ überleben werden.
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