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Aus für die Raubtierdompteure?

Helmut Höge, geboren 1947, ist Aushilfshausmeister und schreibt seit 1980 für die taz unter anderem Regionalrecherchen, über Wirtschaft und Natur. Beim Verlag Peter Engstler ist außerdem seine zwölfbändige Reihe „Kleiner Brehm“ mit Texten zu Tieren erschienen. Texte von Höge finden sich u. a. unter: blogs.taz.de/hausmeisterblog. Zum Jahresende gastiert vom 16. 12. bis zum 7. 1. noch einmal der Weihnachtscircus Williams mit Raubtieren in der Schalkauer Straße in Hohenschönhausen. Danach wird Manegefreunden irgendwann vielleicht nur noch das Zirkusarchiv von Gisela und Dietmar Winkler in Pankow, Waldowstraße 28, bleiben.

Helmut Höge

Mit dem Ende des Sozialismus ist nicht alles zu Ende gegangen: Das Proletariat verschwindet, die Schmetterlinge, der Internationalismus, die Glühbirne, die Raucherkneipen, die Gletscher usw. Da fällt das Aus für ein paar Wildtierdressuren und -dompteure gar nicht groß auf, zumal auch die Zirkusse langsam verschwinden. Eigentlich sind die Dompteure sogar selbst schuld: Ihnen ist nie eine sinnvolle Tätigkeit mit ihren gefährlichen Raubtieren eingefallen – außer, dass sie ihre Gefährlichkeit herausgestellt haben – während sie diesen schönen Großkatzen, Bären und Elefanten absolut sinnlose Kunststücke beibrachten: Männchen machen, Fahrrad fahren, durch brennende Reifen springen, sich zu Pyramiden aufbauen, auf Seilen balancieren.

Den wilden Tieren unter der Zirkuskuppel geht es wie den sowjetischen Kosmonauten im Weltraum: „Wir haben unser Hauptproblem dort oben nicht gelöst. Wir können seit Gagarin in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“ So empfinden die wilden Großtiere das wohl nicht, vielleicht finden sie ihre jämmerliche Manegenexistenz aber „produktiver“ als die ihrer Artverwandten in Zookäfigen.

„Die Philosophie ist eigentlich dazu da, das einzulösen, was im Blick eines Tieres liegt“, schrieb Theodor W. Adorno. Die Nichtphilosophen versuchen dagegen das einzulösen, was in ihrem Blick auf die Tiere liegt: Die Tierschützer sehen eine lebenslänglich eingesperrte und gequälte Kreatur in ihnen: „Glauben Sie nicht an das Märchen von der sanften Dressur. In Wirklichkeit geht es hart zu hinter den Kulissen eines Zirkuszeltes. Wildtiere lassen sich nicht ohne Zwang und Gewalt dressieren. Sie tun es, weil ihr Wille im Vorfeld bereits mittels Gewalt gebrochen wurde und weil sie permanent befürchten müssen, bestraft zu werden“, schreibt die Tierschutz-NGO Peta.

Die Dompteure auf der anderen Seite sagen, dass etwa die Großkatzen in der Manege dasselbe machen, was sie auch in Freiheit tun: sich auf die Hinterbeine erheben, über Hindernisse springen, daran hochklettern und über Abgründe balancieren. Der Dompteur Martin Lacey vom Circus Krone meint: „Wir verstehen uns selbst als Tierschützer und vertreten die Auffassung, dass Tiere in menschlicher Obhut geschützt und glücklich leben können. Wir lieben unsere Tiere, und es ist für uns unglaublich verletzend, wenn uns vorgeworfen wird, wir würden sie quälen.“ Er ließ sich von einem Arte-Fernsehteam für eine Dokumentation bei seiner Arbeit begleiten und will beweisen, dass Tierhaltung auch im Zirkus artgerecht sein kann. „Die Debatte, in der sich Gegner wie Befürworter von Raubtiernummern in Zirkussen absurderweise gleichermaßen als ‚Tierschützer‘ empfinden, wird immer weiter geführt“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Wie kam es dazu? Carl Hagenbeck hatte 1867 in seinem Zirkus die wilde Dressur („die gewohnheitsmäßige Brand- und Stockdressur“) durch eine „zahme Dressur“ – eine Mischung aus Schlägen bzw. Peitschenhieben und Belohnungshappen – ersetzt. Der Tierhändler und Zoodirektor wollte mit der zahmen Dressur „einen Weg zur Psyche des Tieres“ finden, wie er 1928 schrieb: „Je geduldiger und gütiger der Dompteur ist, desto mehr Vertrauen werden die Tiere zu ihm fassen; ist seine Güte aber nicht mit Strenge gepaart, die sich Gehorsam zu erzwingen weiß, dann wird der Vorführung die Sicherheit mangeln.“ Der sowjetische Zirkushistoriker Jewgeni Kusnezow spricht in seinem Buch „Der Zirkus der Welt“ (1970) von einer „humanen Dressur“, aus der Carl Hagenbeck eine ganze „Dressurschule“ entwickelte, zusammen mit seinem Bruder Wilhelm, dessen Sohn Willy und seinem Schwager Heinrich Mehrmann. Sie stellten „Nummern“ zusammen, und Hagenbeck verkaufte oder verlieh dann die dressierten Tiergruppen an Zirkusse, inklusive Käfige, einem von ihm erfundenen zerlegbaren „Rundkäfig“ und die dazugehörige „Szenerie“ (etwa eine arktische Fauna mit 40 verschiedenen Möwen, Kormoranen und Seelöwen) für elf Eisbären, die sie erstmalig „fertig machten“, wobei das Training dieser Tiere besonders lange dauerte. „Gegen Ende der Neunzigerjahre [des 19. Jahrhunderts] hatte sich die humane Dressur überall durchgesetzt, ihre Erfolge waren zu offensichtlich“, schreibt Kusnezow. Dabei wandelten sich jedoch die Begriffe: „Zahm war jetzt eine ruhige, seriöse Nummer“ und „wild“ eine gefährlich wirkende, „bei der man die Tiere reizte“. Das ging fast bis zu einer Geschlechtertrennung bei den Dompteuren: „Mit der Verbreitung der humanen Dressur begann die große Zeit der Frauen im Raubtierkäfig.“ Und sie dressierten zumeist nicht mit männlicher Wucht, sondern eher mit jungfräulicher Anmut.

Die amerikanische Dompteurin Mable Stark wollte 1940 mit ihren zehn Tigern keine albernen Kunststücke mehr einüben, sondern deren Schönheit präsentieren: Sie liefen herum, sprangen von Postament zu Postament – und taten alles wie im Fluss. Sie erwartete großen Applaus, er war aber nur verhalten „respektvoll“. Ganz anders die darauf folgende Löwennummer eines Dompteurs: „Die Tiere fletschten die Zähne, schlugen mit den Tatzen durch die Luft“, der Dompteur musste mehrmals seine Schreckschusspistole einsetzen. Als sie von ihren Postamenten runtersprangen und auf ihn losgingen „konnte er sich nur mit einem Hechtsprung durch die auffliegende Käfigtür retten“. Das Publikum johlte und klatschte stehend. Die damalige Löwendompteurin beim Zirkus Busch, Tilly Bébé, über die ihre Direktorin Paula Busch einen Roman schrieb, notierte sich über ihre abendlichen Auftritte: „Diese unverkennbare Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod ist im Grunde die Stelle, die das Publikum interessiert.“

Mabel Stark meinte bereits 1947: „Die Raubtierdressur ist auf dem absterbenden Ast. Wie Kohlen schleppen oder Schornsteine fegen. Also wirklich nicht das, was ich einen Markt mit Wachstumschancen nennen würde. Diese verdammten Tierschützergruppen machen überall mobil.“ Anders die berühmte Leipziger Dompteurin Claire Heliot: Sie bekam 1901 auf ihrer Welttournee vom englischen Tierschutzverein sogar eine Auszeichnung für ihre liebevolle Dressur von 12 Löwen und 4 dänischen Doggen. „Ich schwinge die Peitsche über ihren Köpfen, mehr nicht“, sagte sie in einem Interview, in einem anderen erklärte sie: „Manche Menschen denken, dass es verhängnisvoll für den Löwentrainer“ sei, wenn eines der Tiere Blut sehe oder der Trainer zu Boden stürze.

Doch nichts davon stimme. Stattdessen brauche es „Liebe und Verständnis, Langmut und Geduld“. Obwohl sie von ihren Löwen mehrmals angegriffen und auch verletzt wurde, meinte sie am Ende ihres Lebens: „Die Menschen haben mich immer wieder enttäuscht! Meine treuesten Freunde, das waren doch – meine Löwen.“ Deswegen sah sie immer das Gute in ihren Blicken: Nachdem ihr Löwe „Pascha“ sie in den Arm gebissen hatte, meinte sie: „Ganz beschämt“ sei er davongeschlurft, in einer Ecke habe er schließlich gelegen, „die mächtigen Tatzen vor dem Gesicht“.

Ähnlich äußerte sich die DDR-Dompteurin Ursula Böttcher, die anfänglich mit Löwen arbeitete: Als sie „Royal“ einmal ein Stück Fleisch zur Belohnung gab, was dieser gewohnheitsmäßig mit einem Prankenhieb quittierte, dem sie nicht schnell genug auswich, zerriss er ihr die Pulsader. Ihr holländischer „Tierlehrer“ Gaston Bosman sagte, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, er nehme es ihr nicht übel, wenn sie nun aufgebe. Aber warum denn, antwortete sie, „Royal hat es doch bestimmt nicht mit Absicht getan. Ich glaube sogar, der ist noch mehr erschrocken als ich.“

Als sie mit einer Eisbärengruppe 1989 in einem spanischen Freizeitpark gastierte, bekam Böttcher erstmalig mit Tierschützern zu tun, die gegen die Haltung und Dressur im Zirkus demonstrierten. Ihnen schlossen sich die Medien an. Kurt Kolar vom Tierpark Wien-Schönbrunn, der „quasi oberster Tierschützer Österreichs“ war, schätzte zwar ihre Eisbärenhaltung und -dressur als „vorbildlich“ ein, gab jedoch zu bedenken: „Noch vor 30 Jahren waren auch Verhaltensforscher der Meinung, dass Zirkustiere ein besseres Leben führen als ihre in Zoos gehaltenen Artgenossen.“ Nun hätten sich „die Zeiten aber geändert, unser Wissen um die Ansprüche der Tiere hat enorm zugenommen“. Ihm falle es zwar schwer, die „Tierschützerforderung zu akzeptieren“, aber sie sei „im Interesse der Tiere wahrscheinlich sinnvoll“.

Der indische Dompteur Damoo Gangaram Dhotre trat mit verschiedenen Raubkatzengruppen in amerikanischen, sowjetischen und französischen Zirkussen auf. In Indien veröffentlichte er 1961 seine Autobiografie „Wild Animal Man“. Seinen „Ruhm“ verdankte Dhotre demnach vor allem der Leopardin „Sonia“, die nur mit einem Lasso dirigiert werden konnte und als „bösartig“ galt, weil sie „andere Tiere angriff und den Dompteur behandelte, als wäre er Luft für sie“. Dhotre gegenüber verhielt sich die wild geborene Leopardin jedoch wider Erwarten ganz freundlich: „Sie hätte eine Hauskatze oder ein Schoßhund sein können, nach ihrem Verhalten zu urteilen.“ Für ihn wurde sie eine „Königin, und sie war so lange glücklich, wie man sie als solche behandelte“. Als sie sich einmal im Freien von der Leine losriss und er „Sonia, komm her!“ rief, kam sie sofort zu ihm zurück. „Sie hatte gelernt, alle die manchmal für ein Tier sicher unverständlichen Dinge zu akzeptieren, die ihr von mir beigebracht wurden.“

Für eine Vorstellung im New Yorker Square Garden wollte er zum Abschluss mit ihr zur Musik von „The Blue Danube“ im Zentralkäfig tanzen: Als alle anderen Tiere draußen waren, breitete er die Arme aus und warf Stock und Peitsche weg. Sonia kam langsam auf ihn zu, erhob sich auf die Hinterbeine und umarmte ihn. So tanzten sie „durch den ganzen Manegenkäfig. Dies war die Nacht, von der ich mein Leben lang geträumt hatte.“ Es hätte auch ein „Tanz des Todes“ werden können, dann wäre „das der krönende Höhepunkt einer aufregenden Dompteurlaufbahn“ gewesen.

Die DDR-Zirkushistoriker Ernst Günther und Gerhard Krause schreiben: „Der Zirkus ist eine Erscheinung der Kunst als einer besonderen Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit“, das heißt wohl: Obgleich die „Volkskunst“ Zirkus noch nicht ganz tot ist, fallen bereits die Demokratiegeier über sie her. In immer mehr Ländern und Gemeinden werden Wildtierdressuren verboten, in Berlin in mehreren Bezirken, und es kommt immer öfter zu Protestdemonstrationen. Für die Raubtierdompteurin Yvonne Mudrack, die mit zwei Tigern und drei Löwen auftritt, läuft das im Endeffekt auf ein „Berufsverbot“ hinaus, wie sie sagt.