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Crossdressing-Musical „Kinky Boots“Auf der roten Linie

Das neue Hamburger Musical „Kinky Boots“ dreht sich um High-Heels und Drag-Queens. Explizit verhandelt wird das Thema Transsexualität aber nicht.

Und alle so: Yeah! Foto: Johan Persson

Hamburg taz | Mann oder Frau? Man weiß es nicht. Wirklich nicht. Ist auch egal, im Alltag der Großstadt soll halt jeder aussehen, wie er will. Aber das hier ist kein Alltag, das ist die Bühne des Hamburger Operettenhauses und die Tänzer auf der Bühne haben das „*“ im Wortsinn verdient: Sie sind Tänzer*innen. Männer, deren Körper so sehr nach Frau aussehen, dass die Geschlechtszugehörigkeit ernsthaft infrage gestellt ist. Männer mit den Beinen von Frauen und den Bauchmuskeln von Männern. Beispielsweise.

Diese Tänzer*innen, sechs an der Zahl plus eine Anführer-Drag-Queen, sind der Kern des neuen Stage-Entertainment-Musicals „Kinky Boots“. Sie sind der Unique Selling Point, den jedes Musical braucht, um sich im hart wirtschaftlich orientierten Musical-Markt profilieren zu können. Das Besondere von „Kinky Boots“ besteht darin, diese Tänzer*innen gefunden und zusammengeführt zu haben. Es sind hervorragende Tänzer*innen, die es schaffen, im normalerweise irritationsfreien Musical-Raum Irritationen zu schaffen.

Die Geschichte von „Kinky Boots“ dreht sich um eine Schuhfabrik im englischen Northampton, es könnten die 70er-Jahre sein, jedenfalls ist das Fabrikgebäude alt, heruntergekommen und düster. Länger schon laufen die Geschäfte schlecht. Der alte Chef stirbt und sein Sohn Charlie kommt aus London angereist, um die Firma abzuwickeln. Charlie will mit der Produktion und dem Verkauf von Herren-Halbschuhen nichts zu tun haben.

Doch dann kommt alles anders: Charlie entdeckt seine soziale Ader, will die Belegschaft nicht vor die Tür setzen und denkt über eine Neuausrichtung des Geschäfts nach. Gleichzeitig lernt er die Drag-Queen Lola mit ihrer Tanztruppe kennen. Lola klagt über die miese Qualität ihrer hochhackigen roten Lederstiefel, die sie bei ihren Auftritten anzieht. Charlie zählt eins und eins zusammen. Das neue Geschäftsmodell seiner Schuhfabrik heißt: erotische Stiefel mit Lola als Chefdesigner*in.

Vogueing und Glitzer

Zu diesem Zeitpunkt klatschen die Zuschauer im Operettentheater das erste Mal mit, es ist eine Szene, in der Lola und ihre Truppe eine ihrer erstklassigen Choreografien zum Besten geben. Das Orchester drückt Disco-Beats in den Zuschauerraum und die sieben Tänzer*innen reizen aus, was die homosexuelle Szene Harlems in den späten 70er-Jahren entwickelt hat und später von Madonna bekannt gemacht wurde: Es geht um Voguing, also das überspitze Imitieren der Posen von Mode-Models in hochdynamischen und oft linearen Bewegungsmustern. Getanzt wird in aufwändigen Glitzerkostümen und mit dickem Make-up. Das Musical: eine Travestieshow.

Als sich also Charlies neue Geschäftsidee und dessen brillant vorgeführte Verwertbarkeit treffen, als die Zuschauer mitklatschen und aus der düsteren Fabrik eine glitzernde Travestie-Bühne geworden ist, da denkt man: Okay, Problem gelöst, Abend gelaufen. Allerdings sind zu diesem Zeitpunkt erst 50 Minuten vergangen.

Deshalb müssen neue Probleme her, und die kommen von den männlichen Fabrikarbeitern: Sie haben keine Lust auf die neue Produktionspalette. Sie können nicht akzeptieren, dass der neue Chefdesigner in Frauenklamotten rumläuft. Lola stellt die Kräfteverhältnisse in einem Boxkampf klar. Und als diese Schlacht geschlagen ist, kommt das nächste Problem in Gestalt von Charlies Ansprüchen: Nichts ist ihm gut genug und für schwule Männer wollte er dann doch nicht produzieren – er dachte eher an erotische Frauen als Kundschaft.

Musikalisch wird das alles gespiegelt in den Genres Rock (für die Aufbruchstimmung), Disco (für die Tanzszenen) und Säusel-Pop (für die Liebe und die Selbstzweifel). Zudem gibt es Tango und Soul – insgesamt ein abwechslungsreiches Programm. Ein Hit zum Behalten ist nicht dabei, obwohl Cyndi Lauper die Musik komponiert hat. Aber Energie und Groove stimmen.

Am Ende wird die Geschichte vom findigen Unternehmer natürlich auch noch eine Geschichte von Toleranz, gesellschaftlicher Entwicklung und Menschlichkeit. Der homophobe Vorarbeiter darf seinen Job behalten und sein Gesicht wahren, muss aber im Gegenzug Akzeptanz lernen. Lola hilft Charlie aus der Klemme. Charlie erkennt Lola und die Transen als echte Freunde an und wird für diesen Lernprozess mit einer neuen Liebe (weiblich) belohnt. Alle dürfen in dieser spätkapitalistischen Erfolgsgeschichte auf ihre Fa­çon glücklich werden.

Weil das aber nicht reicht, weil so ein Musical keine emotionale Schublade ungezogen lassen will, gibt es darüber hinaus auch noch eine Vater-Sohn-Beziehungsgeschichte. Charlie und Lola haben beide die Erwartungen ihrer Väter enttäuscht und tragen schwer daran. Das Wissen um das gemeinsame Problem schweißt sie zusammen. Charlie und Lola betreten als Kinder die Bühne und tanzen sich am Ende frei.

Der Rührseligkeitsfaktor ist also hoch und die Geschichte von der heldenhaft überwundenen Homophobie ist nicht mehr recht zeitgemäß. Trotzdem hat „Kinky Boots“ mit dem Ensemble der Tänzer*innen einen Aspekt, der die Sache interessant macht: Beteiligt sind hier auch Leute aus der transsexuellen Szene und nicht nur Männer in Frauenklamotten.

Was diesen Unterschied ausmacht, haben die Filmemacher Rosa Baches und Dirk Manthey in ihrem Dokumentarfilm „Der Schmuck der Straße“ erklärt. Der Film berichtete 2010 von den Transsexuellen auf St. Pauli, von jungen Männern aus Südamerika, für die Hamburg neben Barcelona und Mailand ein Anlaufpunkt ist bei ihrer Mi­gration ins für sie aufgeschlossenere Europa.

Die Hamburger Transsexuellen, die ein ganzes Haus in einer Reeperbahn-Seitenstraße gemietet haben und sich von dort aus gegenseitig helfen, wollen sich nicht nur schminken und anziehen wie Frauen, sie tun auch viel dafür, ihre Körper anzupassen.

Sichtbare Transsexuelle

Es handelt sich bei den Hamburger Transsexuellen um eine weitgehend isolierte Community. Dieser Szene verhilft „Kinky Boots“ zu einer gewissen Sichtbarkeit. Zwar wird das Thema Transsexualität nicht mit Tiefgang behandelt, zwar bleibt „Kinky Boots“ stets auf der Ebenen von Männern, die sich gern als Frauen verkleiden, aber man versteht durch die Auswahl der Tänzer*innen, dass das Thema eine tiefgreifendere Dimension hat, nämlich die der körperlichen Veränderung – die allerdings nicht zur Sprache, sondern nur zur Anschauung kommt. Transsexualität explizit zu verhandeln, daran traut sich „Kinky Boots“ dann doch nicht heran.

Wenn also Transvestiten eine gesellschaftliche Tabuzone in den 70ern darstellten, so sind es heute offenbar die Transsexuellen, die sich hinter einer roten Linie befinden. „Kinky Boots“ überschreitet die rote Linie nicht, schreckt aber auch nicht davor zurück. Das kann hilfreich sein. Und sei es nur dadurch, dass das Musical einer Handvoll Tänzer*innen für eine Zeit lang zu guten Jobs verhilft.

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Themen #Musical

4 Kommentare

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  • author*in schreibt, das "transsexualität" zum tabuthema gehoert und findet das auch irgendwie blöd. hat sich leider vorher noch nie so richtig mit dem thema auseinander gesetzt, nur ein mal besagten film geschaut aber auch da wohl nicht richtig aufgepasst. spricht dann von hamburger transfrauen als männern, ignoriert, das geschlechtsidentitaet nicht zwingend etwas mit genitaelien und deren anpassung zu tun hat und gesteht nur den menschen ein kleines gendersternchen zu, deren koerper ausreichend als gender-nonconforming zu ernennen sind. insgesamt vielleicht ein netter grundgedanke, aber total schlecht geschrieben und eher kontra produktiv. besonders schade, weil die taz das eigentlich besser kann und personen bei sich arbeiten hat, die ueber den artikel mal haetten drueberlesen können (hengameh zb).

    • @ciaokakao:

      Seufzte..Ach ja, Hengameh Yaghargifarah. Ich werde nie so richtig verstehen, was sie andere so großartig an ihr finden. Und warum wegen ihren Strichmännchencomics in der Zeitschrift Missy die zeichnerisch großartige Claire Lenkowa fallen gelassen wurde. Ihren Artikel zu Taylor Stift in der taz fand ich auch eher befremdlich.

      • @Wallis:

        Der korrekte Name ist Yaghoobifarah.

    • Klaus Irler , Autor des Artikels, Hamburg-Redakteur
      @ciaokakao:

      Hallo Ciaokakao, erst hatte ich vor, auf Ihren Kommentar nicht zu reagieren, weil sich mit Unterstellungen ("Autor hat sich noch nie mit dem Thema auseinandergesetzt") und Pauschalisierungen ("die taz kann das besser") immer schlecht umgehen lässt. Ich habe nach der faktischen Kritik in Ihrem Beitrag gesucht und habe dann doch zwei Aspekte gefunden, zu denen ich etwas sagen kann: Erstens bin es nicht nur ich, der die Beteiligten in der Hamburger Schmuckstraßen-Szene als Männer beschreibt, es sind die dort lebenden selber. Es gibt dazu im taz-Archiv ein Interview, das ich mit einer der Transexuellen aus der Schmuckstraße geführt habe. Zweitens behaupte ich an keiner Stelle des Artikels, dass Geschlechtsidentität zwingend etwas mit angepassten Genitalien zu tun habe. Ich habe keine Ahnung, wie sehr sich auch "nur" verkleidete Männer als Frauen fühlen können und habe nie behauptet, ich wüsste das. Insgesamt scheint mir, als ob Sie den Text grundsätzlich falsch verstanden haben. Es handelt sich nicht um eine Abhandlung zur oder gar Bewertung der transsexuellen Szene, sondern um die Rezension eines Mainstream-Musicals, in dem entgegen der sonst üblichen Praxis auch Transsexuelle mitspielen.