In der Pufferzone

WENDE Am falschen Ort zur falschen Zeit: Der Abend des Mauerfalls zwanzig Meter neben der Mauer, aber ganz ohne Mauerfall

Die Stadt: Nikosia auf Zypern ist die letzte geteilte Hauptstadt Europas. Eine fünf Meter hohe Mauer trennt den Norden vom Süden: Im Süden liegt der griechische Teil, im Norden der türkische. Auf beiden Seiten wohnen etwa 50.000 Menschen.

Die Geschichte: Die Spaltung geht zurück auf das Jahr 1974, als die türkische Armee in Nikosia einrückte. Im November 1983 folgte die Proklamation der Türkischen Republik Nordzypern. Die Türkei beansprucht seitdem also offiziell den Nordteil der Insel, wird aber von den UN nicht anerkannt. Eine Demarkationslinie läuft quer durch die Insel. Gesichert wird sie von Soldaten der United Nations Peacekeeping Force, die dafür sorgen sollen, dass der Konflikt nicht eskaliert. Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan brachte 2002 einen Plan auf den Weg, der die Wiedervereinigung der Insel zum Ziel hatte – der Plan scheiterte. Seit Mai 2004 gehört die Republik Zypern zur Europäischen Union, der Nordteil der Insel jedoch nicht.

VON KLAUS HILLENBRAND

Am Vorabend des 7. Oktober 1989 wehen an allen Autobahnauf- und -abfahrten die schwarz-rot-goldenen Flaggen mit Hammer und Zirkel im Wind. Die DDR begeht ihren vierzigsten Geburtstag standesgemäß. Doch der Transitreisende bleibt von diesem Ereignis seltsam unberührt. Die Kontrollen bei der Ausreise aus West-Berlin in Dreilinden wie bei Verlassen des Staatsgebiets nördlich von Hof sind so preußisch-unhöflich wie immer. Sie sind zudem für den Autofahrer, der diese Strecke schon dutzendfach durchquert hat, zur lästigen, aber unabänderlichen Routine geworden.

Und dabei ist diese Reise doch alles andere als Routine. Hof ist ja nur die erste, kleine Etappe. Es soll viel weiter gehen, bis nach Griechenland und schließlich mit dem Schiff weiter auf die Insel Zypern, am südöstlichen Ende Europas gelegen. Die Sache ist nämlich die, dass ich einen Verlagsvertrag in der Tasche habe für ein Sachbuch über die Insel. Mein erstes Buch! Dafür gibt es noch viel zu recherchieren und noch mehr zu schreiben – natürlich am Ort des Geschehens.

In einem zwecks Übernachtung angesteuerten bayerischen Gasthof berichten die Tischnachbarn beim Weißbier mit leuchtenden Augen von ihrer gerade beendeten Fahrt in die Tschechoslowakei, davon, dass sie dort alte Freunde getroffen hätten und dass dort jetzt plötzlich ein ganz anderer Wind wehen würde. Ich finde das interessant, aber nicht übermäßig aufregend. Am nächsten Tag heißt es im Autoradio auf der Fahrt zum Brenner, es sei am Rande der Feierlichkeiten zum DDR-Geburtstag zu Prügelorgien von Volkspolizei und Stasi gegen Oppositionelle gekommen. Erschreckend, ja. Aber ich kenne nicht einen einzigen DDR-Bürger persönlich.

In der zypriotischen Hauptstadt Nikosia findet sich ein günstig angebotenes leerstehendes Häuschen. Es gibt zwar nur eine in einem wackligen Holzverschlag befindliche kalte Dusche und die erreicht man auch nur über den Hof. Aber der zypriotische Herbst scheint wunderbar warm zu sein und ich habe zwei Zimmer in einer schmalen Gasse mitten in der pittoresken Altstadt, und noch dazu nur zwanzig Meter von der Demarkationslinie zum türkischen Teil entfernt, deren Absperrung sich, versehen mit Blechtonnen, Mauern und Stacheldraht, quer durch die Stadt und die ganze Insel zieht.

Deutschland ist weit weg

Ein Logenplatz auf die politischen Verhältnisse Zyperns also, der gewiss zur Inspiration des Autors beitragen wird. Ein etwas ramponiertes Bett, Schreibtisch, einen Tisch, den Kühlschrank und ein paar Stühle kann man in einem nahen Möbellager mieten. Für einen Fernseher reicht das Geld nicht, schon gar nicht für ein Telefon. Ein original britisch-rotes Telefonhäuschen befindet sich etwa fünfhundert Meter entfernt. Ab und zu rufe ich von dort meine Freundin in Berlin an. Die Gespräche beschränken sich angesichts der immensen Fernsprechgebühren darauf, sich gegenseitig zu versichern, dass man noch am Leben und gesund ist. Das geteilte Deutschland ist weit weg. Ich bin sehr zufrieden.

Danach dringen nur noch wenige Fetzen der historischen Ereignisse bis in die enge Patroclos-Gasse. Der britische BBC World Service berichtet über Mittelwelle von großen Versammlungen in Leipzig. Irgendwann auf einer Fahrt durch die Berge meldet ein anderer Sender, Erich Honecker sei aller seiner Posten verlustig gegangen. Ich beginne mich ein wenig zu wundern.

Als Ausländer besitze ich auf Zypern das seltene Privileg, auf Tagesreisen den türkischen Norden besuchen zu dürfen. Ganz im Gegensatz zu meinen griechischen Nachbarn, die immer nach meiner Rückkehr begierig darauf drängen, was ich von der Reise in das ihnen streng verbotene Territorium auf der anderen Seite der unüberwindlichen Mauer zu erzählen weiß. Steht ihr Haus noch, das sie im Krieg 1974 fluchtartig verlassen mussten? Morgens geht es über den einzigen Checkpoint zum griechischen Posten, wo mir eingeschärft wird, spätestens um 17.00 Uhr wieder zurück zu sein, dann durch die tote UN-Pufferzone zur türkischen Kontrolle, wo erst umständlich Versicherungen auszufüllen und ein Visum zu beantragen sind, bevor die eigentliche Fahrt losgehen kann. Das kommt mir von den Reisen in die DDR durchaus vertraut vor. Weil ausländische Journalisten in Türkisch-Zypern streng überwacht werden, erkläre ich mich zum Archäologen. Ich fotografiere für die heimatvertriebenen zyperngriechischen Nachbarn ihr verlorenes Eigentum. Wenn die Bilder nach einigen Tagen entwickelt sind, ist die Freude groß.

Ansonsten passiert nicht viel. Ich besuche bisweilen Freunde, darunter Andreas, Mitglied der Kommunistischen Partei, dessen Frau R. ursprünglich aus der DDR stammt. Anfang November wird es kälter. Regen setzt ein, nicht enden wollender Regen. Tagelang tropft es intensiv vom Himmel, auf das Ziegeldach des alten Hauses, durch das mit Erde nicht wirklich abgedichtete Dach hindurch, auf meinen Schreibtisch. Sogar ins Bett, bis ich es ein wenig verrücke. Überall stehen Gefäße auf dem Boden, um das bräunliche Nass aufzufangen.

Das Häuschen besitzt keine Heizung. Ich besorge einen mit Kerosin betriebenen Ofen. Der Gang zur eiskalten Dusche über den feuchten betonierten Hof erweist sich nun als zunehmend schwierig. Nach einer üblen Erkältung beschließe ich, bei schlechtem Wetter nur noch abends zu duschen, danach schnurstracks ins Bett zu fallen und mich dort mit einem Brandy zu erwärmen. Um das Arrangement vollständig zu machen, wird vor dem Gang über den Hof der brennende Ofen nahe ans Bett gestellt, und das Mittelwellenradio steht griffbereit.

Das wird zu einem allabendlichen Ritual.

Am Abend des 9. November ist es spät geworden. Das Dusch-Ritual nimmt seinen Lauf. Der Brandy steht bereit. Der Ofen strahlt. Ein Druck auf den Radioknopf – und ich bin mitten in Berlin. Der BBC World Service sendet live. Man hört die Hupgeräusche der Autos am Grenzübergang, die vor Begeisterung sich überschlagenden Stimmen der Ost-Berliner und einen englischen Reporter, dem es schwer fällt, angesichts des Ereignisses britisches Understatement zu verbreiten.

Und ich liege in Nikosia im Bett.

Draußen tut sich absolut nichts. Schon tagsüber ist die Patroclos-Gasse sehr ruhig. Jetzt, nach Mitternacht, sind einzig streunende Katzen zu hören. Jetzt noch Bekannte besuchen? Die werden längst schlafen und außerdem hat das zypriotische TV-Programm schon Sendeschluss. Ich bleibe bei der BBC auf Sendung.

Nun wird es mehr als nur ein Brandy.

Auf Zypern interessiert der Mauerfall kaum: Im Fernsehen läuft das Nachmittagsprogramm mit einer griechischen Schnulze

Am nächsten Morgen steht die zypriotische Mauer fest und unüberwindbar wie immer. Gelangweilte Militärposten dösen einige Meter hinter dem Imbissstand am Ende der Gasse. Nichts hat sich verändert – absolut gar nichts. Oder doch? Meine Nachbarn halten mich auf der Straße an, um zur deutschen Einheit zu gratulieren. Und als Nächstes den Ausländer zu fragen: „Wann ist es endlich bei uns so weit, dass die Mauer fällt?“

Das Manuskript bleibt am 10. November liegen. Im Reisebüro erkundige ich mich nach Flügen nach Berlin – fast alles ausgebucht, und wenn dann doch noch wie bei der ungarischen Malev ein Platz frei ist, dann ist der unbezahlbar. Andere waren offenbar früher dran als ich. Freunde haben einen Fernseher. Ich gehe bei ihnen vorbei. Von Mauerfall keine Spur: Es läuft das Nachmittagsprogramm mit einer griechischen Schnulze. Abends treffe ich Andreas, den Kommunisten, und seine Frau R. aus der DDR. Dort hält sich die Begeisterung in engen Grenzen. Der schöne Sozialismus! Die Errungenschaften der Arbeiterklasse! R. ist gewiss keine linientreue SED-Genossin, doch sie, die die DDR seit Jahren nur noch von Kurzbesuchen her kennt, steht zu „ihrem“ Land. Rasch einigen wir uns auf die perfekte Analyse des Ereignisses und seine Folgen: Jetzt droht ein neuer deutscher expansiver Nationalismus, vielleicht gar die Unterjochung der Europäischen Union unter deutsche Großmachtsallüren. Und die Neonazis werden sowieso die Deutsche Demokratische Republik erobern.

Verpasste Geschichte

Spätabends ein Anruf aus dem roten Telefonhäuschen nach West-Berlin, wohl der teuerste meines Lebens. Seltsamerweise kann M. meine durch tiefgründige Gespräche mit verdienten Mitgliedern der „Fortschrittspartei des werktätigen Volkes“ vertiefte Skepsis überhaupt nicht teilen. Sie berichtet von freudestrahlenden Menschen und einem Verkehrschaos. Sie ist begeistert. Ich schiebe das auf ihre jugendliche Naivität. Aber ich beginne auf dem Weg nach Hause durch die dunklen und menschenleeren Straßen doch zu grübeln. Und gehe ins Bett. Diesmal ganz ohne Brandy.

Erst einen Monat später verlasse ich Zypern für zehn Tage. Man soll verpassten Ereignissen nicht nachtrauern. Das Flugzeug geht nicht nach Deutschland, sondern nach Israel.

Die zypriotische Mauer hat in den vergangenen zwanzig Jahren übrigens ein paar Löcher bekommen. Aber sie steht immer noch.