Tanz die Kräuterküche

Teilnehmende Beobachtung im Apotheken-Labor von „Pharmacist or Balloonist“ im Ballhaus Ost. In dem Stück von Elpida Orfanidou & Guests wird mit Rezepten und Wunschmaschinen hantiert

Vorneweg beim Party-Tanz: Elpida Orfanidou mit „Pharmacist or Ballonist“ im Ballhaus Ost Foto: Dieter Hartwig

Von Astrid Kaminski

Kein Applaus. Das ist hart. Fürs Publikum. Hinter der Bühne schläft ein Baby, so heißt es im Schlussakt von Elpida Orfanidous „Pharmacist or Balloonist“, und ja, auch diesen Akt spielen wir Zuschauer*innen mit. Also pssssst. Starren noch ein bisschen nach vorne. Einfach gehen wäre zu einfach. Ein Trupp Draufgänger (ja, reine männliche Form), die offensichtlich nicht wissen, welches Risiko von schreienden Babys ausgeht, schlägt doch noch die Hände gegeneinander, wird aber gleich wieder ermahnt.

Genauso leise hatte es schon angefangen, am Donnerstagabend bei der Premiere des Stücks. Vom Theaterfoyer ging es erst einmal, Totenruhe würdigend, im Gänsemarsch über den unbeleuchteten Fried­hofs­park nebenan, dann zur Hintertür in den Zuschauer*innenraum des Ballhaus Ost hinein.

Offenbar ein kleiner Warnhinweis: So kann es enden, sollten die Tinkturen, Tees und Smoothies, die im Laufe des Abends bei „Pharmacist or Balloonist“ in der Bühnen-Laborküche gemixt werden, allzu unbedacht angewendet werden. Und tatsächlich: Latente Kurkuma-Vergiftungserscheinungen habe es schon gegeben, berichtet Laborantin Louise. Worauf Chefapothekerin Elpida eine einfache Erklärung parat hat: Sie nehme, wie beim Suppenkochen, gerne von allem etwas mehr. Das erklärt auch, warum in dem Reagenz-Probierglas Blaubeer-Smoothie wahrscheinlich mehr Kakao drin ist als in einer ganzen Schokotafel.

Einst kam die Performerin Elpida Orfanidou auf die Idee, dass sie der Jeanne-d’Arc-Schauspielerin Maria Falconetti ähnlich sehen würde, und strickte daraus ein lakonisches Making-of-Stück. Wofür diese gewählte Nähe auf jeden Fall steht, ist ihre Fähigkeit, ihr Gesicht auf der Bühne filmisch zu inszenieren. In diesem Fall als vergessliche Diva, deren dis­tinguierte Reflexe sich besser erhalten haben als ihr Gedächtnis. Jedes Zucken um die Augen oder um den Mundwinkel sitzt, der Blick oft abwartend herausfordernd in den Raum oder auf ein konkretes Opfer ihres kannibalischen Humors gerichtet.

Es wirkt, als wäre sie durchweg im Close-up-Modus. Das genaue Kalkül dieses Gesichtes bannt den Blick – ein Zoomeffekt der Aufmerksamkeit, der eine enorme Fallhöhe schafft. Keine Mimik, keine Äußerung darf dieser Kunstfigur entgleiten, es würde sie zerstören, es würde die langen Spannungskurven, bis sich dieses Auge oder dieser Mund wieder zu einer Äußerung hinreißen lassen, gegen sie richten.

Aber sie fällt nicht. Die Art, wie sie alltägliche Konversationsbanalitäten jeweils mit einem exakt abgemischten und gut vergärten Kommentar versieht, zündet, je nach Leitung, früher oder später. Es wird, reihum, mit Dominoeffekt gegiggelt. Was nicht daran liegt, was sie sagt, sondern wie.

Den Ansatz einer Story gibt es trotzdem. Inmitten von Destillatoren, Kräutern, Ölen und Essenzen – die Bunsenbrenner zunächst streng, dann nachlässiger von La­bor­ant*innen bewacht – scheint es zunächst um Orfanidous eigene Geschichte zu gehen: Wie ihre Bühnenfigur hat sie zunächst in Athen Pharmazie studiert. Als ihre Mutter und später ihr Vater erkrankten, frischte sie ihr Wissen offenbar mit allerlei Suchmaschinen-, Kräuter- und Hexenküchen-Recherche auf. Und spätestens hier mischen sich Fakten mit Fiktionen, die armen Eltern werden ihrem Schicksal überlassen, das Labor arbeitet, die Wunschmaschine auch.

Seltsam ungelenke Party-Tanz-Einlagen spuken herbei, im Laptop läuft Tango, Rembetiko oder Jazz. Wie blutleere Ethnogeister wirken die Laborant*innen in ihren pastellfarbenen Kittelvarianten (Kostüme Claudia Hille). Werden hier Medizin oder Halluzinogene gebraut? Oder sind wir im Hinterzimmer eines Concept-Stores? Oder im Wellnessstudio, wo das Gurkenpeeling zur esoterischen Séance gerät und letztlich eine mongolische Kehlkopfsängerin gechannelt wird?

Die Szenen wirken seicht und vergilbt wie alte Frauenzeitschriften, aber dabei auch sehr endzeitlich. Als ginge es darum, alle Essenzen der Welt zu Wundertinkturen zu mischen, um noch einmal den Beweis anzutreten, dass der Mensch ein kosmisches Wesen ist, die Medizin in allen Abweichungen dazu da, ihn als organische Substanz zu erhalten. Jeder Schritt wird von einer Laborant*in dokumentiert, filmisch oder per Notiz, während der Alchemistin immer mehr die Kontrolle über ihr Universum entgleitet.

Irgendwie landet sie schließlich im Reigen mit ihren Gehilf*innen, die Hierarchien entgleiten. Auch wenn ihr Fuß bei jedem Schritt die Nase zu rümpfen scheint: Die Diva tanzt einen Stammestanz. Ein letzter Versuch der Anrufung von Asklepios, Paracelsus & Co, bevor sie verblasst und als Ballonfahrerin über den Weiten des Anthropozäns verschwindet.

„Pharmacist or Balloonist“: Ballhaus Ost, Pappelallee 15, Samstag, Sonntag 20 Uhr