Der Tempel
von
New
York

An der Ecke zur 5th Avenue steht mit Emanu-El eine der größten Synagogen der Welt. Gegründet wurde die Gemeinde von liberalen Juden aus Deutschland

Synagoge der Schönen und Reichen: der Temple Emanu-El vor der Trauerfeier für die Entertainerin Joan Rivers am 9. September 2014 Foto: John Roca/Polaris/laif

Aus New York City Dorothea Hahn

Wer im Emanu-El Tempel an der Upper East Side nach der Person fragt, die sich am besten mit den Spuren der deutschen Juden in der Reformgemeinde auskennt, wird an den „Rabbi Emeritus“ verwiesen. Ronald Sobel war fast 30 Jahre lang der Chef-Rabbiner der Synagoge. Und er ist eines der letzten Mitglieder der großen Gemeinde, das sich noch auf seine europäischen Wurzeln beruft.

Die imposante neo-romanische Sy­nagoge an der Ecke 65 Straße/5th Avenue liegt in einer der elegantesten Gegenden der Stadt. Zu ihren Gemeindemitgliedern gehören einflussreiche Power Broker: Wall-Street-Manager, Immobilienmakler, Medienunternehmer, Showstars und der ehemalige Bürgermeister Michael Bloomberg.

Was heute eines der Machtzentren in der Stadt ist, war bei der Gründung des Cultus-Vereins im Jahr 1843 eine Gruppe von frisch eingewanderten Krämern. Manche von ihnen hatten nichts weiter als einen Laden auf Rädern, mit dem sie durch die Stadt zogen. Sie waren Teil der großen Auswandererbewegung, die an die Versprechen der Aufklärung glaubte und die in den USA auf religiöse und politische Freiheiten hoffte, die sie in Deutschland nicht bekam.

Die 33 Männer, die den „Cultus-Verein“ gründeten, kamen aus allen Teilen Deutschlands. Aber die neuen religiösen Ideen, die sie mitbrachten, stammten ursprünglich aus Hamburg. Schon zwei Jahre nach dem „Cultus-Verein“ gründeten sie eine Gemeinde, die sie „Emanu-el“ – Gott ist mit uns – nannten. Es war die erste jüdische Reformgemeinde von New York. Und nach Charleston und Baltimore die dritte in den USA. Die Gründer waren in der großen Welle von westeuropäischen jüdischen Einwanderern in der Mitte des 19. Jahrhunderts gekommen. In jener Zeit wuchs die jüdische Bevölkerung in den USA von 15.000 Mitgliedern im Jahr 1840 auf 250.000 im Jahr 1880.

In einer ihrer ersten liturgischen Reformen in New York ersetzten die Gemeindemitglieder im Jahr 1848 das Hebräische durch ihre Muttersprache Deutsch. Zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits ihren gemieteten Veranstaltungsraum im ersten Stock eines Hauses an der Grand Street in der Lower East Side verlassen und eine ehemalige Methodistenkirche gekauft und umgebaut. In den Folgejahren zog die Gemeinde in demselben schnellen Rhythmus, in dem sie neue Mitglieder und neuen Wohnstand gewann, mehrfach um. Dabei entfernte sie sich mit jedem Umzug weiter von dem Stadtteil, in dem Einwanderer wohnten, die „frisch vom Boot“ kamen.

Was Rabbi Sobel über die 33 Gründer der Gemeinde erzählt, klingt wie Erfolgsgeschichten aus einem amerikanischen Bilderbuch. Ein Immi­grant der ersten Generation, der Bayer James Seligman, wurde der Finanzberater von US-Präsident Abraham Lincoln. Mehrere in New York geborene Kinder von Gründungsmitgliedern der Gemeinde waren in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich und gründeten die Kaufhäuser Bloomingdales und Abraham & Straus und die Investmentbank Goldman Sachs.

Parallel zu ihrem schnellen Aufstieg in den USA reformierten die Gemeindemitglieder auch ihre religiösen Traditionen. Sie installierten eine Orgel in ihrer Synagoge und fügten erstmals Instrumentalmusik in ihre Gottesdienste ein. 1854 taten sie einen weiteren großen Schritt, als sie die getrennte Sitzordnung für Männer und Frauen abschafften.

Doch trotz der formalen Gleichberechtigung nahmen Frauen erst Jahre später öffentliche Rollen in der Gemeinde ein. Als zwischen 1880 und 1920 eine neue jüdische Einwanderungsbewegung vier Millionen Menschen aus Osteuropa in die USA brachte, waren es Frauen, die bei Emanu-El die Verteilung von Lebensmitteln, Kleidung und andere Hilfen organisierten. Bis zur ersten Rabbinerin bei Emanu-El verging fast ein komplettes Jahrhundert. Heute hat die Synagoge an der 5th Avenue drei Rabbinerinnen. Aber Joshua Davidson, der Chefrabbiner, ist ein Mann.

Die Vorfahren des ehemaligen Chef-Rabbiners Sobel wanderten in der zweiten großen Welle aus Osteuropa ein. „Meine Großeltern sprachen Jiddisch, Polnisch und ein holperndes Englisch“, berichtet er. Als er 1962 seine erste Stelle als „Assistant Rabbi“ in Emanu-El antrat, waren die Nachfahren der deutschen Einwanderer nur noch eine Minderheit in der Gemeinde. Die Gottesdienste wurden schon seit den 1870er-Jahren auf Englisch gehalten, und die Gemeindemitglieder definierten sich mehrheitlich als „amerikanische Juden“.

Parallel zu ihrem Aufstieg in den USA reformierten die Gemeindemitglieder auch ihre religiösen Traditionen

Aber das – nunmehr englische – Gebetbuch basierte noch auf den alten Traditionen. Und bei der Auswahl der Musik für die Gottesdienste wählte die Synagoge oft europäische Komponisten aus.

In seiner Amtszeit als Chefrabbiner von 1973 bis 2002 trieb Sobel die Reformen weiter voran. Unter anderem streckte er die Hand zu katholischen, protestantischen und muslimischen Gemeinden in New York aus, trat der ökumenischen Gruppe „Partnership of Faith“ bei und sprach von der Kanzel der St Patrick’s Cathedral.

Der gegenwärtige Chef-Rabbiner setzt die Tradition der ausgestreckten Hand fort: Vor Kurzem lud er unter anderem Salman Rushdie, die ehemalige First Lady Michelle Obama und Khizr Khan in seine Gemeinde ein, den aus Pakistan eingewanderten Vater eines im Irak-Krieg gefallenen US-Soldaten. Er umwirbt auch die LGBT-Community: Paaren, die in Israel keine religiöse Trauung bekommen, bietet er eine Zeremonie in seinem Tempel an.

New York hat – nach Tel Aviv – die zweitgrößte jüdische Bevölkerung der Welt. Das Reformjudentum, dessen Ideen von individueller Freiheit vom ersten Moment an ideal in das neue Land passten, hat längst die Mehrheit der New Yorker Synagogen erobert. Emanu-El ist aber immer noch die größte Synagoge der USA und eine der größten der Welt – unter der hohen, prächtigen Decke des Tempels beten an hohen Feiertagen mehrere Tausend Menschen.