Reformen sind machbar

Die Postreform folgt dem Lehrbuch von Umstrukturierungen in der Privatwirtschaft

VON GEORG BLUME

Der Mann trug wieder keine Krawatte. Auch am Abend seines größten Erfolges blieb sich Junichiro Koizumi treu: Im dunkel gestreiften Polohemd mit offenem Kragen verzichtete er auf die traditionellen „Banzai“-Rufe des Siegers und gab lässige Interviews: „Aus meiner Sicht wäre eine einfache Mehrheit für meine Partei auch in Ordnung gegangen, aber die Leute verschafften uns bessere Ergebnisse, als wir erwartet hatten“, sagte der frisch gekürte Wahlsieger. Darin liegt eines seiner Erfolgsgeheimnisse: Koizumi wirkt immer wie ein Linksliberaler, dabei ist seine Politik stramm nationalistisch.

Am Sonntag war ihm kein Gegner gewachsen. Das Ergebnis der japanischen Parlamentswahlen sprengte alle Vergleiche. 296 von 480 Sitzen gewann die Liberaldemokratische Partei (LDP), die Japan fast ohne Unterbrechung seit 50 Jahren regiert. Das Resultat übertrifft sogar noch den historischen Wahlerfolg von Yasuhiro Nakasone im Jahr 1986, der für die LDP 300 von 512 Sitzen holte. Vor allem aber sah sich die Partei seit Jahren auf einem absteigenden Ast. Zeitweise konnte sie nur eine Koalition mit den verhassten Sozialdemokraten an der Macht retten. Zuletzt waren es die braven Buddhisten der Komeito-Partei, die ihre Mehrheit im Parlament sicherten. Doch nun wieder eine satte absolute Mehrheit! Gemeinsam mit dem Koalitionspartner sogar eine Zweidrittelmehrheit. Die Opposition liegt am Boden, verliert über 50 Sitze, noch in der Wahlnacht erklärt ihr Chef seinen Rücktritt. Wie kommt das?

Die glanzvolle Wiederauferstehung der Liberaldemokraten hat eine Vorgeschichte. Sieben japanische Regierungschef verwalteten von dem großen Tokioter Aktiensturz im Jahr 1990 bis zum Frühjahr 2001 die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ihre Namen sind außerhalb Japans längst vergessen. Koizumi, der seit 5 Jahren in Tokio regiert, droht dieses Schicksal nicht zu ereilen. „Japan fliegt wieder“, titelte der englische Economist vor zwei Jahren, als sich die japanische Wirtschaft langsam aus ihrer tiefen Krise der Neunzigerjahre zu erholen begann. Heute fliegt auch die japanische Politik wieder. Koizumi hat einer seit Jahrzehnten träge die Geschäfte abwickelnden Politikmaschine neuen Dampf gemacht. Plötzlich passt in Japan wieder alles zusammen: Die Wirtschaft wächst, die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt und die Regierung hat wieder eine Marschrichtung. Reformen sind politisch durchsetzbar. Die Mehrheit der Japaner unterstützt sie. Wie hat Koizumi das nur geschafft?, dürfte sich ein wahlkampfmüder Gerhard Schröder fragen.

Koizumis bahnbrechender Wahlerfolg ist die Folge der wirtschaftlichen Wende Japans. Nicht umsonst waren es gestern die Börsianer, die als Erste jubelten. Um 1,6 Prozent schnellte der Tokioter Aktienindex am Montag empor, bei Börsenschluss zählte der Nikkei-Index 12.896,43 Punkte, schon will die US-Investment-Bank Goldman Sachs den Index im nächsten Jahr auf 15.000 Punkte ansteigen sehen.

Dabei ist die Tokioter Börse längst nicht mehr die alte. Früher gehörten die großen Firmen sich selbst. Die gegenseitigen Aktienbeteiligungen von Mitsubishi Bank, Mitsubishi Motors und all den anderen bildeten einen Großteil den Börsenkapitals. Heute ist die Börse ein Markt der Investoren. Vorbei die Zeit der geschönten Bilanzen. „Japans Firmenbücher sind heute aussagekräftiger als die meisten amerikanischen“, sagt Jesper Koll, Chefökonom der US-Investmentbank Merrill Lynch in Tokio.

Hinter seiner Aussage verbirgt sich eine wirtschaftliche Kulturrevolution, die von der Regierung losgetreten wurde. Unter Koizumi mussten die einst nahezu bankrotten Großbanken ihre Bücher bisweilen dreimal bei der neu geschaffenen Finanzaufsichtsbehörde vorlegen, bevor sie genehmigt wurden. Inzwischen haben von zehn Großbanken drei überlebt. Die Folge: Ihre Aktienwerte stiegen gestern überdurchschnittlich um 2,8 Prozent – ein Zeichen, dass die japanische Wirtschaft dort, wo sie am marodesten war, wieder gesundet ist. Auch die Immobilienwerte zogen gestern um 2,6 Prozent an. Tatsächlich haben die Immobilienpreise in Tokio nach 15 Jahren Preisverfall 2005 erstmals wieder die Pluszone erreicht.

Die Konzepte lauteten: weniger Hierarchien, klarere Verantwortungen

Koizumi kann sich nicht alle Wirtschaftserfolge selbst anrechnen. Aber er hat mit seinen ständigen Attacken auf die eigene Partei die Umstrukturierung des einst als Japan AG verpönten, in sich verflochtenen Wirtschafts- und Regierungsmodells angetrieben. Seine Vorbilder fanden sich in der Wirtschaft. Dem Libanesen Carlos Ghosn gelang es in den vergangenen Jahren auf aufsehenerregende Art, aus dem bankrottreifen Nissan-Konzern den profitabelsten Autokonzern der Welt zu formen.

Fujio Mitarai führte den hoffnungslos überschuldeten Canon-Konzern unter die zehn größten Unternehmen Japans. Die Konzepte der Manager lauteten: weniger Hierarchien, klarere Verantwortungen, genauere Zielvorgaben – all das fehlte Japan auch in der Politik. Die Postreform, für deren Durchsetzung Koizumi jetzt die Neuwahlen einberief, folgte dem Lehrbuch erfolgreicher Umstrukturierungen in der Privatwirtschaft.

Koizumis Wahlsieg hat also ökonomische Reichweite. Es sieht so aus, als würde nun auch der einfache Wähler an den Umbau der Wirtschaft glauben. Dafür steht auch der erstmals seit Jahren wieder ansteigende Privatverbrauch. Gegenüber einer hoch anfälligen US-Konjunktur und einer stagnierenden EU lenkt Koizumi die Blicke auf Japan. Das Land steht besser da, als viele dachten.

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