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Zwei Farben: Rot

Herdanziehung: Wie Rouladen mit Rotkohlblättern zubereitetet werden, was einen richtig guten Blaukraut-Eintopf ausmacht – und warum der pH-Wert des Gartenbodens über die Farbe des Wintergemüses entscheidet

Es ist es erstaunlich, wie sich der Geschmack des Rotkohls zwischen Feld und Teller wandelt Foto: Westend61/imago

Von Denny Carl

Plötzlich brach Hektik aus. Der Boden wurde mehrfach stark erschüttert. Eine Frau schrie entsetzt. Als mir ein Kopf an die Schuhe rollte, ahnte ich langsam, in welcher Situation ich mich befand. Die Frauenstimme hob erneut an. Man konnte ihren wenigen, jedoch ausdrucksstarken Worten entnehmen, dass sie mit der Steilhanglage des Supermarkt-Gemüses und den Prinzipien der Schwerkraft eher unzufrieden war. Ich betrachtete das Fallgemüse zu meinen Füßen. Es geschah, was immer geschieht, wenn ich Rotkohl nur sehe oder auch nur zart zu schnuppern glaube: An meinem inneren Auge werden große weiße Teller vorbeigetragen. Mit Klößen, goldbrauner Sauce, einem Stück Braten oder ein, zwei Rouladen und natürlich einem kleinen Hügel hingebungsvoll verfeinerten Rotkohls. Es sind Erinnerungen an festliche Tage, ein Gefühl von Familie und Zuhause.

Da war die Zubereitung des Festtags-Rotkohls ohne die Verwendung von mehr oder weniger geheimen Zutaten abseits von Äpfeln, Lorbeerblättern und Nelken kaum möglich. Zur Auswahl standen Gänseschmalz und Johannisbeergelee – beides selbstredend nur aus hauseigener Manufaktur – Wildfonds, Rotwein, Portwein, Kirschsaft, Preisel- und Wacholderbeeren, Birnen, diverse Essige, Zimt, Muskat, Piment, Thymian und Rosmarin (aber nur einen Hauch!) und natürlich viel, viel Zeit. Zum Schluss besorgten Mehl, Speisestärke und noch mehr Fett Glanz und Schlotzigkeit. Ein häufiges Abschmecken war unabdingbar, um die harmonische und zum Essen passende Mischung aus Süße und Säure zu erreichen – und um die Wartezeit bis zum Servieren erträglich zu halten.

Manch Verehrer des farbenfrohen Wintergemüses schwört darauf, aus Gewürzen, süßen und sauren Komponenten eine Marinade zu bereiten und den rohen geraspelten Kohl darin über Stunden oder gar Tage baden zu lassen. So oder so ist es erstaunlich, wie sich der Geschmack des Rotkohls zwischen Feld und Teller wandelt. Man glaubt kaum, dass Rohkostsalate und die unwiderstehliche Festtagsbeilage aus ein und demselben Gemüse gemacht werden. Jenem Kohl, der mir gerade zugerollt war. Nach all den köstlichen Gedanken entschied ich, dass heute der richtige Tag für den kulinarischen Winteranfang ist. Kurzerhand evakuierte ich den Kohlkopf in meinen Einkaufswagen und schob ab. Er hatte den Sturz schließlich gut überstanden und glänzte tadellos in einem satten Rotblau. Oder war es Blaurot?

Die Farbe eines Rotkohls erzählt über sein bisheriges Leben. Überwiegt Rot, so gedieh er einst auf einem etwas saureren Boden. Tendiert er mehr ins Bläuliche, so wuchs er auf einem eher alkalischen Stückchen Erde. Kleingärtnern ist der Rotkohl-Anbau zu empfehlen, wenn sie nicht nur gesundes Gemüse bis in den Winter hinein ernten wollen, sondern am pH-Wert ihres Gartenbodens interessiert sind. Die in den Blättern enthaltenen Anthocyane dienen als biologischer Indikator. Dieser Effekt funktioniert auch noch im Kochtopf. Mit der richtigen Menge an Essig errötet selbst ein tiefblaues Exemplar. Dieses Farbenspiel erklärt, weshalb abhängig von Herkunft und Rezept Rotkohl hier und da Blaukraut genannt wird.

Um aus diesem Zungenbrecher einen schmackhaften Zungenschmeichler zu machen, gibt es viele Möglichkeiten. Kohlrouladen, die für gewöhnlich in Wirsing gehüllt werden, lassen sich auch mit Rotkohl-Blättern zubereiten. Um die harten und fest anliegenden Blätter geschmeidig zu bekommen, sollte der ganze Kopf schrittweise blanchiert werden. Als Füllung eignen sich neben dem klassischen Hackfleisch besonders Massen mit Pilzen, Kürbis, Maronen, Nüssen, Käse oder Datteln. Roh und kalt oder leicht angegart und lauwarm bietet Rotkohl eine hervorragende Basis für aromatische Salate. Mit karamellisierten Walnüssen, Gorgonzola und Birnen entsteht ein echter Saisonklassiker, angemacht mit Orangensaft, Haselnussöl und Rotweinessig.

Ich entschied mich jedoch für einen Rotkohl-Eintopf. Das war genau das Richtige, um dem kalten, trüben Tag etwas entgegenzusetzen. Außerdem schmeckt er schon ein bisschen nach Feiertage und ist schnell gemacht. Der grob geschnittene Kohl wird mit Zwiebeln kurz angeschwitzt, mit Brühe und Essig abgelöscht und zum Kochen gebracht. Später kommen Kartoffeln, Möhren oder Steckrübe, Äpfel und Lauch dazu. Raffinierter wird es mit getrockneten Feigen oder Pflaumen. Als Beigabe eignet sich Kasseler, etwas Speck oder gebratene Entenbrust. Feta-Würfel, die über den fertigen Eintopf verteilt werden, sind ein guter fleischloser Ersatz.

Zum Eintopf-Glück fehlten mir noch ein paar Zutaten. So bog ich erneut in die Gemüse-Abteilung ein. Die Frau, die alles ins Rollen brachte, war noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Es war ihr sichtbar unangenehm. Sie hatte einen roten Kopf.