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Wenn die Ereignislosigkeit verweilt

Fast alles in der jüngeren deutschen Geschichte ist am 9. November passiert. Aber was war am ödestenTag des 20. Jahrhunderts los, dem 11. April 1954? Eine Kurzgeschichte

Laut einem englischen Wissenschaftler ist der 11. April 1954 der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts Foto: Oscar Poss/ullstein bild

Von Annabelle Seubert

Kalkof lag im Bett und wackelte mit den Füßen. Eine Angewohnheit, die ihm kaum noch auffiel, ihm aber half, den Tag zu beginnen. Er drehte seine Füße nach außen, innen, außen und spreizte dabei seine Zehen, ganz so, als kämen sie vor ihm zu sich. Kalkof erwachte körperaufwärts.

Wie jeden Morgen ärgerte er sich kurz, als sein Blick auf die Tapete fiel, die an den Wänden Wellen schlug: Orange und weiß umrandete schwarze Kreise auf ockerfarbenem Grund. Kreise, die immer zu zweit auftraten, sie schienen sich an einem Punkt berühren zu wollen und erinnerten Kalkof an ein schielendes Augenpaar. Auch ließen sie ihn an Uta denken, jene letzte Frau, neben der er seine Zehen gespreizt hatte. Uta hatte die Tapete ausgesucht und dasselbe Schiele-Muster auf einer ihrer Rührschüsseln kleben.

Endlich stand Kalkof auf und schaltete das Radio ein: Die neue AEG-Röhre lief gut. „Sauberer Ton“, dachte er, obwohl er den Nachrichtensprecher nicht ausstehen konnte, Aufregung in seiner Stimme, die so oft nicht dem Spannungsgrad der Neuigkeiten entsprach. Es war 8 Uhr am 11. April 1954, als Kalkof dem aufgekratzten Durch-die-Zeilen-Huschen lauschte – „in Belgien wird heute gewählt“, „ … und nun zum Sport“ – und beim Wetter aufgegeben hatte, längst nicht mehr richtig hinhörte. „Der April hält, was er verspricht.“

Kalkof hing seinen Gedanken nach. Vielleicht, überlegte er, verband ihn mit den Nachrichtensprechern ein Schicksal – denn dass die niemand fragte, ob sie gut fanden, wie sie klangen, das war ja wohl jedem klar. Die hatten mit ihrem Klang zu leben. Genau wie Kalkof damit zu leben hatte, beim Nachnamen genannt zu werden, auch wenn es ihm lieber gewesen wäre, wie der Peter drüben im „Anker“, gerufen zu werden, „Peter!“, er war dort sein liebster Wirt. Oder wie Heinz, sein Kollege in der Abfertigung. Das waren solide Namen.

Reste vom Rasierschaum am Kinn, ließ er seine Hosenträger schnalzen und trat ans offene Fenster. Es war nicht warm und nicht kalt, der Himmel nicht grau und nicht blau. Kalkof sah auf den Schuttberg in seinem Hinterhof, auf dem Löwenzahn wuchs. Er konnte die paar Minuten zählen, die es dauerte, bis auf der Straßen dahinter der nächste taubengraue Käfer vorbeifuhr. Manchmal war ihm diese Welt noch fremd: Wie sich die Leute auf den Ledersitzen ihrer VWs quetschten. Die Männer mit ihren geschmierten Haaren, die Frauen mit ausgestellten Röcken. Bei den Kuchen und Torten kam er eh nicht mehr hinterher, und wenn es nach Kalkof ging, konnte man die Ananas vom Toast Hawaii wieder runternehmen. Kalkof, der so stand und sich eine Camel anzündete, war gewiss kein Zukunftsverweigerer. Er war auch nicht unmodern, bestimmt würde es noch viele denkwürdige Tage geben, einen 8. März oder 11. September oder 9. November, was konnte er schon wissen.

Bloß heute, dachte Kalkof, könnte doch einmal die Ereignislosigkeit verweilen. Diplomaten müssten keine Friedensverträge verhandeln und die Wirtschaft müsste nicht boomen. Er könnte in Ruhe zur Arbeit, die Sekretärin für eine Besprechung an den Nierentisch bitten. Später vielleicht neben ihr am Ausgabeschalter der Kantine stehen. Am Abend könnte er mit Heinz zu Peter und dann würden sie noch eine Weile sitzen und an Uta hätte er kein einziges Mal gedacht.

„Wär doch schön“, sagte Kalkof laut und blies den Camel-Rauch in den Hinterhof. Erst als er den Kringeln hinterhersah, sah er das Nachbarmädchen, das hellblond und geräuschlos am Fenster gegenüber stand. Es schien etwas Ahnliches zu denken wie er.

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