Um den Globus

Ist man nur weit genug weg, sieht es schön aus: der Film „Human Flow“ von Ai Weiwei

Pubertierende Mädchen ziehen lachend ihre Rollkoffer durch den Schlamm, wie auf Klassenfahrt

Von Lea Wagner

Ein Künstler, der eigentlich Installationen und Performances macht, dreht eine Doku. Ums Budget schert er sich nicht. „Zahlen sind nicht so sein Ding“, sagt ein Mitarbeiter. Der Künstler fängt an zu drehen, ohne dass die Finanzierung steht. Oder überhaupt ein Plan. Er schart zweihundert Leute um sich und filmt in 23 Ländern, ein Jahr lang. Raus kommen über tausend Stunden Material. Angefragt wird ein Cutter, der sich mit Mammutprojekten auskennt. Der winkt ab: zu viel Arbeit.

Kurze Zeit später überlegt der Cutter Nils Pagh Andersen es sich anders – der Künstler habe ihn mit seiner Vision mitgerissen. Der Cutter holt Verstärkung. Zu acht schneiden sie den Film, der am Ende immer noch zwei Stunden zwanzig lang ist. Darin geht es um Flüchtlinge auf der ganzen Welt, von Syrien über Mexiko bis Myanmar.

Och nö, denke ich. Schon wieder? „Ziemlich mies, kannste dir sparen“, sagt ein Kollege. Was mache ich? Reingehen.

Weil das Plakat so schön aussieht: ein Wuselbild, aufgenommen mit einer Drohne, das ganz viele Menschen zeigt, klein wie Ameisen, alle rennen sie in verschiedene Richtungen. Rein gehe ich auch des Künstlers wegen. Ai Weiwei heißt er – und ist kein ganz Unbekannter. Vertreibung hat er selbst erfahren. Erst im eigenen Land, zur Zeit der Kulturrevolution, als der Vater, ein chinesischer Dichter, mit seiner Familie aus Peking in die Provinz verbannt wurde.

Ai Weiwei wurde von der Polizei verprügelt, der Steuerhinterziehung bezichtigt, unter Hausarrest gestellt, unablässig überwacht und 2011 ohne plausible Begründung für 81 Tage inhaftiert. 2015 durfte Ai Weiwei wieder reisen – und zog nach Berlin.

„Human Flow ist meine Geschichte“, sagt er bei der Premiere. „Ich wollte diesen Film machen, um mich selbst besser kennenzulernen.“ Das ist schade. Weil es seinen Film unnötig abschwächt, indem es etwas fast Universales auf die persönliche Ebene (eines bei allen Repressalien doch privilegierten Individuums) reduziert. Davon abgesehen ist „Human Flow“ ziemlich stark. Vor allem ist er eines: voller schöner Bilder, fast majestätisch. Als hätte man Fotografien aus Geo in Bewegtbilder umgewandelt.

Da ist ein aus der Höhe gefilmtes Flüchtlingsboot, das scheinbar widerstandslos über das tiefblaue Meer gleitet. Ist man nur weit genug weg, sieht das – man traut es sich kaum zu sagen – sehr schön aus. So wie die reflektierenden goldenen Folien, die den Geflüchteten um die Schulten gewickelt werden. Schon einmal haben sie Ai Weiwei inspiriert: Er wickelte Skulpturen in sie ein.

Schön, weil erhaben und sehr berührend, ist auch der Gesang geretteter eritreischer Flüchtlinge, tief in der Nacht, mitten auf dem Meer. Darf Elend schön sein? Eine Antwort bleibt der Film schuldig.

Manchmal gibt es auch lustige Momente auf der Flucht – sowie alltägliche. Kinder spielen Fußball. Ein Syrer zeigt Handyfotos von seiner (ebenfalls mitgeflüchteten) Katze, wie sie einen Pullover trägt. Ein Paar macht Selfies während der Überfahrt, Sonnenbrille tragend. Pubertierende Mädchen ziehen lachend ihre Rollkoffer durch den Schlamm, als wären sie auf Klassenfahrt. Migration als Abenteuer – das ist ein Bruch mit Klischees, der aber leicht den Falschen in die Hände spielen kann.

Problematisch ist auch, dass Ai Weiwei in seinem Film zu viele Länder in einen Topf wirft. Manchmal wirkt das wie eine Tour de Force um den Globus. Keinem der Flüchtenden kommt man wirklich nahe. Einmal wird ein Mann gezeigt, der fünf Verwandte auf der Flucht verloren hat, zwei durch Ertrinken. Er weint, dann kommt ein Cut. Und damit passiert genau das, was der Film vermeiden will: ein Abstumpfen dem Elend gegenüber.

„Human Flow“. Regie: Ai Weiwei. Deutschland 2017, 140 Min.