Verwerten, was geht

Musik-DVDs sind ein Hoffnungsträger der Tonträgerindustrie. Sie sind billig zu produzieren, und an alten Aufnahmen, die sich neu vermarkten lassen, besteht kein Mangel. Die Live-Alben haben sie schon abgelöst, nun ersetzen sie zunehmend das Musikfernsehen

VON UH-YOUNG KIM

Seit Musik speicherbar ist, entwickelt die Industrie alle paar Jahre ein neues Format, auf dass die Kunden in immer neuen Aufmachungen mehr vom ewig Gleichen kaufen können. So ging es bisher. Seit der Ton im Begriff ist, sich vom Träger zu verabschieden, ist dieser Zyklus durchbrochen. Trotzdem hat sich noch nicht alles in Nullen und Einsen aufgelöst. Kraft ihrer Haptik trotzt die Musik-DVD der unaufhaltsamen Immaterialisierung.

Gegenüber den Download-Interfaces wirkt die physische Form der DVD fast schon retro, wenn nicht gar traumatisch bekannt: Sieht der vielseitige Silberling doch genauso aus wie die CD, mit der die Musikindustrie begann, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Außer in ihrer größeren Speicherkapazität unterscheidet sich die DVD technisch nicht großartig von der CD. In der Musik ist die große Umwälzung von analogen auf digitale Medien nur schon in den Achtzigerjahren vollzogen worden – anders als in der Filmbranche, in der die Videokassette erst 1997 von der DVD abgelöst wurde. Und ganz so euphorisch wie beim Film, wo der Handel mit Film-DVDs zweistellige Wachstumsraten verzeichnet hat, ist der Jubel in der Musikindustrie über die Musik-DVD auch nicht. Nach einem Rekordhoch letztes Jahr hat sich der Absatz im ersten Halbjahr auf 3,8 Millionen Stück eingependelt. Damit machen DVD-Formate nur fünf Prozent der Tonträgerumsätze aus. Zu den wöchentlichen Neuveröffentlichungen gesellt sicht monatlich ein neues Hybridformat dazu. Etwa die Audio-DVD, die aber wahrscheinlich schon in naher Zukunft wieder aus der Popmusik verschwunden sein wird. Hierauf sind Wiederveröffentlichungen von klassischer Musik und Pop-Klassikern zu finden. Dabei verzichtet sie auf Bilder zugunsten eines hoch ausdifferenzierten Raumklangs. In den vollen Genuss ihres Frequenzspektrums kommen wohl nur die Schlosshunde von Besitzern einer Heimanlage im Wert eines Kleinwagens. Dagegen verknüpft die DualDisc als Wendeformat Bild und Ton. Für ein paar Euro mehr erhält man die Megaseller des Mainstreams als „Premium Audioprodukt mit enhanced content“, wie es in Pressemitteilungen heißt.

Das Hauptgenre der Musik-DVD ist das Live-Konzert. Im Zuge seiner Ausbreitung dürfte das klassische Live-Album schon bald passé sein. Antizyklisch leisten sich nur noch die Elektronikhelden von Kraftwerk und Mouse On Mars aktuell ihre jeweils ersten Live-CDs. Ansonsten sind die Tage gezählt, als man sich mit geschlossenen Augen und nur vom Sound beflügelt der Illusion hingab, vergangenen Ereignissen beizuwohnen. Wer seine Freizeit mit Simulationsphantasmen in den eigenen vier Wänden verbringt, verschafft sich mit Dolby-Surround, Plasma-TV und der Live-DVD Einlass in ein Paradies des Heimkonzerts.

Die Aufnahmen haben durchaus ihren Reiz. Wenn etwa Ray Charles 1963 in São Paolo zu Hochform aufspielt (Ray Charles: „O Gênio – Live in Brazil“) oder Johnny Cash als Lokomotivführer durch die amerikanische Siedlerhistorie reist (Johnny Cash: „Ridin’ The Rails“). Von Zu Hause aus lassen sich Chers eintausend Garderobenwechsel pro Show ebenso bequem bestaunen („Live In Concert“) wie Dancehall-Star Elephant Man bei der Verteidigung seines Rufs als „Energy God“ in Florida („Live In Miami“).

Um Nachschub macht sich niemand Sorgen. Live-Material, das auf ein digitalisiertes Leben nach VHS wartet, scheint schier unerschöpflich verfügbar zu sein, und die Produktionskosten sind gering. Aus dem Fundus der letzten 50 Jahre Popgeschichte werden alle möglichen Auftritte noch mal aufgewärmt. „Content“ geht dabei selten über anwählbare Songs hinaus. Booklets gehören nicht zur Regel. Wo dann doch mal zusätzliche Inhalte zu finden sind, herrscht die akribische Fetischisierung von Unwesentlichem vor. Das Wiederveröffentlichte ist mit Audiokommentaren, Hobby-Dokumentationen, Interviews und – wenn man Glück hat – Untertiteln der Songs zum Karaokesingen angereichert. So wird für die Nachwelt die Farbe des Ferraris von Miles Davis auf dem Montreux Jazz Festival 1973 („The Montreux Dream“, aber besser noch: „Miles Davis: Miles In Paris“), der letzte Pups des Tour-Rowdys von Motörhead und weiteres Spezialwissen festgehalten („Stage Fright – Live In Düsseldorf“).

Das Genre der Musikvideos erlebt auf DVD wiederum eine kleine Renaissance. Seine Blütezeit waren die Neunzigerjahre, bevor sie das in einen Dauerklingelton verwandelte Musikfernsehen ins ästhetische Abseits befördert hat. Für die Rezeption des Videoclips ist die Speicherung auf DVD ein Segen, verschiebt sich so doch ihre Bedeutung vom Rauschen der einstigen Berieselung im Fernsehen hin zu einer Wertschätzung als eigene Kunstform.

Das muss nicht gleich so aufwändig aufgemacht sein wie bei „Rubber Johnny“, dem letzten Kurzfilm von Clipwunderkind Chris Cunningham. Unterlegt mit Musik von Aphex Twin ist das fünfminütige Video über einen im Keller eingeschlossenen Mutanten im eigenen Hardcovereinband erschienen. Anhand der Videosammlungen von Madonna oder Prince lassen sich wunderbar ästhetische Entwicklungen verfolgen. Weniger bekannte Sichtweisen auf die Genesis des Genres geben die audiovisuellen Experimente der Dada-Camp-Gruppe Devo oder der Einstürzenden Neubauten.

Am cleversten widmet sich die „Work of Directors“-Serie der Historisierung der Clipkultur und seiner Protagonisten. Aus den Regisseuren der goldenen Ära des Musikvideos schöpft sie einen Kanon für die Ewigkeit ab. Nach den großen drei unter den Clipmachern – Cunnigham, Jonze und Gondry – steht nun der zweite Schwung an Meistern des musikalischen Kurzfilmformats an: Anton Corbijn, Jonathan Glazer, Mark Romanek und Stéphane Sednaoui. Die Regisseure selbst haben die Menüs und dicken Booklets gestaltet. Das Nebeneinander von Musikvideos, Werbe- und Kurzfilmen lassen inhaltliche Zusammenhänge zu. So lässt sich anhand von Jonathan Glazer die wechselseitige Beziehung zwischen Kinofilm und Musikvideo nachvollziehen. Die Körperlichkeit seiner Bilder bildet den Bogen zwischen dem explosiven Autotunnelfinale im Video zu „Rabbit In Your Headlights“ und Ben Kingsleys furiosem Auftritt in Glazers erstem Spielfilm „Sexy Beast“.

Wer sich aber auch für die libanesische Qualifikation zur DJ- Weltmeisterschaft interessiert oder immer schon mal eine Transgender-HipHop-Show sehen wollte, wird auf DVD fündig. Da die Geschichte des Mediums nicht zuletzt eine ihrer technischen Machbarkeit ist, kann seit Firewire-Schnittstellen am Laptop jeder seine eigene DVD herstellen. Was den meisten kommerziellen und auch selbst gemachten Musik-DVDs dennoch fehlt, ist eine gute Idee und deren Umsetzung. Gelungene Kombinationen aus Konzert, Interviews, Videos und Schnickschnack mit nonlinearer Menüführung gehören bisher zu den Ausnahmen. Stumpf vertraut die Industrie darauf, dass die auf den alten Trägern etablierten Musiker sich auf den neuen ebenso gut verkaufen. Und so wird alles, was geht, verwertet.