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: Auf dem Boden der Tatsachen

Ich blicke an mir herunter und stelle fest, dass auf meinem linken und rechten Schuh jeweils ein Kind Platz genommen hat

Der Bus ist an diesem Morgen so voll, dass die Fahrgäste schon in der Tür stehen. An der nächsten Haltestelle wartet eine Gruppe Kindergartenkinder samt ihrer Erzieherinnen. Als sich die Türen öffnen, zögern die Pädagoginnen nicht lange und schieben die 15 Knirpse in das Fahrzeug. „Setzt euch schön hin“, sagt die eine, und schaut sich prüfend am Boden um.

Auch ich blicke an mir herunter und stelle fest, dass auf meinem linken und rechten Schuh jeweils ein Kind Platz genommen hat. Sollte der Bus bremsen, darf ich nicht auf die kleinen Hände treten, nehme ich mir vor, und halte mich etwas kräftiger an einer Stange fest. Ein kleiner Junge scheint mein Bein auch als so eine Stange zum Festhalten zu interpretieren. Er hat lange Fingernägel. Mit denen krallt er sich an mir fest.

An der nächsten Haltestelle wollen viele raus. Ungeduldig warten sie, bis die Kinder aus dem Weg rutschen. Ein Junge ist nicht glücklich mit seiner Position. Er fragt die Erzieherin: „Darf ich aufstehen und mich festhalten?“ Sie schüttelt den Kopf. Ein anderer Junge will ihm Mut machen: „Wenn wir erwachsen sind, dürfen wir auch stehen.“ „Nein, das dürfen wir doch auch jetzt schon“, stellt ein Dritter klar. Jetzt ist die Erzieherin gefragt: „Kinder sollen im Bus sitzen“, sagt sie. „Und wenn keine Sitzplätze frei sind, geht das halt nur auf dem Boden. Manchmal, wenn man einsteigt, sagen Busfahrer das auch durch: Kinder bitte Platz nehmen! Wenn der Busfahrer nämlich bremsen muss, können Kinder, weil sie so leicht sind, viel schneller durch den Bus fliegen als Größere.“

Die drei Jungs geben sich damit zufrieden. Das Gespräch ist beendet. An der nächsten Haltestelle muss ich raus. Auf dem Weg in die Redaktion spüre ich noch die kleinen Kratzspuren an meinem Bein. Einen Moment später habe ich sie vergessen. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Busfahrt mit freundlichen Kindern. Lena Kaiser