: Am Kipppunkt zwischen Öffnung und Abschottung
Ein Migrant wird ermordet. Ein ehemals linker Intellektueller äußert Verständnis.Pascale Kramer umkreist eine gesellschaftliche Verunsicherung: „Autopsie des Vaters“
Von Carola Ebeling
Sie hat ihn hoch verdient, den Schweizer Grand Prix Literatur 2017, der neben der Ehre auch noch bare Münze zu bieten hat, immerhin 40.000 Franken, die Pascale Kramer sicher dabei helfen werden, mehr Zeit ganz dem Schreiben widmen zu können.
Die 1961 in Genf geborene und seit mehr als dreißig Jahren in Paris lebende Schriftstellerin hat bislang zehn Romane geschrieben. Gerade ist mit „Autopsie des Vaters“ immerhin auch schon der fünfte dieser Romane in deutscher Übersetzung erschienen – und es wäre sehr schön, wenn er dazu beitrüge, sie hierzulande bekannter zu machen. Denn es stimmt, dass Kramer „eine Meisterin der Zwischentöne, des beredten Schweigens, der ,non-dits‘ “ ist, wie es in der Laudatio zu dem renommierten Preis heißt.
Literarische Autopsien familiärer Verhältnisse hat Kramer auch schon in früheren Romanen durchgeführt, es ist quasi ihre Spezialität, die sie zuletzt in „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ beeindruckend vorgeführt hat. Darin erlebt eine junge US-Amerikanerin nach der Geburt ihres Kindes eine beängstigende Überforderung und reagiert auf das Ausbleiben des ihr vermeintlich zustehenden, von der Gesellschaft versprochenen (Mutter-) Glücks mit narzisstischer Enttäuschung. In der Konfrontation mit der eigenen Mutter und dem Ehemann sucht ihre Protagonistin nach den Schuldigen.
Schuldige zu benennen, darum geht es Pascale Kramer in ihren feinen Beobachtungen schmerzlich ineinander verhakter Menschen allerdings nicht. Auch in ihrem neuen Roman ist dieser Aspekt in der schwierigen Beziehung zwischen Ania und ihrem Vater nicht der Kern. Eine Beziehung, die fast ausschließlich aus der Perspektive der Tochter und in der Rückschau sichtbar wird.
Pascale Kramer: „Autopsie des Vaters“. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich 2017, 170 Seiten, 22 Euro
Anias Vater Gabriel, ein ehemals als links geltender Intellektueller, hatte nach der brutalen Ermordung eines Migranten durch zwei junge Männer seines Dorfes Verständnis für die Täter geäußert, ja sogar Partei für diese ergriffen. Ein Skandal, der ihn seine Jobs kostet und in „seinem Milieu“ isoliert. Ania besucht ihn daraufhin nach Jahren mit ihrem sechsjährigen Sohn. Doch die Begegnung erneuert nur alte Kränkungen. Am Abend desselben Tages begeht Gabriel Selbstmord.
Nur widerwillig kehrt Ania in das Haus ihrer Kindheit zurück, um sich gemeinsam mit Gabriels zweiter Frau Clara um die Beerdigung zu kümmern. „Ania stand nachdenklich mitten in ihrem leeren Zimmer, fasziniert, dass man von seiner eigenen Vergangenheit derart ausgeschlossen sein konnte.“ Anhand vieler Szenen, in denen Mimik und Gesten der Figuren ebenso bedeutsam sind wie die Worte, die sie miteinander wechseln, oder ihre Gedanken, die Kramer ausformuliert, macht die Autorin die Spannung zwischen dieser Fremdheit und einer gleichzeitigen, nur allzu großen Vertrautheit spürbar. Eine Vertrautheit, die auch in der Abrufbarkeit eines Schmerzes sichtbar wird, dessen Ursprung so lange zurückliegt: „So wurde also nichts jemals wirklich gleichgültig, dachte sie, man konnte sich höchstens fernhalten.“
Fernhalten von einem Vater, den sie bald nach dem Tod ihrer Mutter als abweisend erlebt hat, dem sie nicht genügen konnte. Dem sie sich auch durch ein Leben entzog, das ihm nicht passte. Die Heirat mit Novak, einem Muslim, missbilligte er schon – erste Anzeichen seines Wandels.
Kramer beobachtet aber auch die anderen Menschen aus Gabriels Umfeld. Clara natürlich, von der sich Ania fragt, wie sie zu dessen Haltung und dem grausamen Mord steht. Das alte Haushälter-Ehepaar, das ihm über Jahre half, von jeher mit Ressentiments beladen: „Gabriels Selbstmord bestätigte sozusagen die Bedrohlichkeit einer Welt, die ihnen Angst machte, in der sie sich nicht mehr sicher und nicht mehr zu Hause fühlten.“ Die Nachbar*innen, die im Gegensatz dazu eine Trauerfeier in der Kirche verhindern und bei der Beerdigung stören. Daraus erwächst die Atmosphäre eines zerrissenen Dorfes, in dem Gewalt und Hass sich Bahn brechen.
Pascale Kramer verknüpft in diesem Roman überzeugend die private Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Dimension. Ania scheint der Rechtsruck ihres Vaters aus dessen Persönlichkeit heraus fast schlüssig, und doch ist sie schockiert. Sie wohnt in jenen als problematisch geltenden Randbezirken, sie hat beruflich mit Immigrant*innen zu tun. Und sie gesteht sich Momente der Frustration, des Unverständnisses ein.
Kramer entfaltet die ambivalenten, oft aber vereinfachend eindeutigen Sichtweisen ihrer verschiedenen Figuren, doch sie lässt sie nicht beliebig nebeneinander stehen. Sie umkreist eine gesellschaftliche Verunsicherung, den Kipppunkt zwischen Öffnung und Abschottung. Und bezieht erzählerisch subtil und doch klar Haltung: Gesellschaftliche Abschottung ist keine Option.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen