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: Die Bombe

„In this Corner of the World“ (Japan 2016, Regie: Sunao Katabuchi)Ab ca. 25 Euro im Handel

Diese Ecke der Welt: Kure in der Präfektur Hiroschima und Hiroschima selbst. In Hiroschima ist Suzu geboren, hier wächst sie auf, mit achtzehn kommt einer, den sie nicht kennt, hält um ihre Hand an, sie sagt nicht nein, ihre Eltern sagen nicht nein, sie zieht zu seiner Familie ins nicht weit entfernte Kure. Eine Stadt, die malerisch liegt, am Hang ist das Haus, der Blick geht über die Bucht hinweg aufs Meer.

Es sind die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, es geht auf den Krieg zu. Dann ist Krieg. Suzu ist ein etwas ­naives Kind, das so manches nicht ganz versteht. Noch als Erwachsene ist sie nicht richtig erwachsen. Sie träumt sich die Welt ein bisschen zurecht. Schön ist, wie der Film mit ihr träumt. Einmal, da war sie noch kleiner, ist sie in der Stadt an ein Monster geraten, das sie in einen Korb auf dem Rücken gesteckt hat. Wir sehen das mit eigenen Augen, aber diese Augen sind doch die ihren.

Oder besser: Die Bilder, die wir sehen, sind ihre. Suzu träumt sich die Welt in ihrer Ecke, sie ist als Zeichnerin sehr begabt, weiße Kaninchen als Kronen der Wellen im Meer, das Monster, die Stadt, alles zeichnet sie, und sich selber darin. Sunao Katabuchi will in seinem Film keinen großen Unterschied machen. Ihm gehen die Bilder über, er lässt gezeichnete Wirklichkeit in gezeichnete Wirklichkeit gleiten, unversehens, er schenkt uns Suzus Blick, der naiv ist, im Schönen und auch im Schrecken, harmlos die Kaninchen, nicht mehr harmlos später die Bomben, die wie Farbbeutel am Himmel explodieren.

Mehr als eine Stunde lang scheint in Suzus Ecke der Welt der größte Schrecken die kratzbürstige Schwester des Gatten zu sein. Der Film lässt sich Zeit für das Speisen, das Einkaufen, das Kochen; für das Nähen eines Kimono, das Suzu von Keiko, der Schwägerin, lernt. Ganz shomingekihaft, also nahe am Alltag, nichts Großes geschieht, dem Kleinen widmet der Film in liebevollem Detail seine Aufmerksamkeit. Der Film lässt sich Zeit und hat doch ein beachtliches Tempo. Nicht immer kommt man ganz mit. Moment, wer war das noch? Wie kam es hierzu? Und dazu? Zu zersplittert ist Suzus Blick, Einzelheiten sieht sie genau, mancher Zusammenhang bleibt ihr verborgen.

Und doch ist die Unschuld von der ersten Einblendung eines Datums an schon verloren. In recht rascher Folge ziehen die Jahre, dann die Monate, dann die Wochen, dann die Tage vorbei, immer in Datumseinblendungen, immer steht das Alter Suzus in Klammern dabei. Und alles läuft, ob man will oder nicht, auf den 6. August 1945 zu, das Datum, mit dem Hiroschima verbunden ist und für immer verbunden sein wird: den Tag der Atombombenexplosion. Sie kommt, sie wird kommen, sie muss kommen. Von Kure aus: Nur ein Blitz, die Druckwelle richtet kaum etwas an, eine ambossförmige Wolke steigt auf.

Viel Verheerung schon vorher. Suzu ist unterwegs mit ihrer kleinen Nichte, Hand in Hand, ein Mann ruft ihr noch zu, das sei gefährlich da wegen der Blindgänger, jederzeit könnten sie in die Luft gehen. Und dann geht eine in die Luft. Alles wird schwarz. Die Darstellung ist zu Tode erschüttert, vibriert, nichts als Strichmädchen, weiße Krakellinien auf schwarzem Grund, sind das, was in diesem Moment bleibt. Die Nichte ist tot, Suzu verliert ihre rechte Hand und erinnert sich an das, was sie in den letzten Tagen, Wochen, Monaten, Jahren mit ihr tat. Sie kann nicht mehr zeichnen.

Nach der Bombe: Einer sitzt da, in einer Hausecke, grau in grau, Kapuze über dem Gesicht. Dann ist er weg. Nur ein Schatten noch, eine Schraffur, als Spur von einem, der lebte, nun ausgelöscht ist.

Ekkehard Knörer