Ewiges Rätsel

Das Tolle an klassischer Musik ist ja, wie offen sie ist. So ein Werk muss man sich stets neu aneignen, keine Aufführung klingt identisch. Wie man bestimmte Stile wahrnimmt und zum Tönen bringt, all das ändert sich mit der Zeit. Das hilft die Musik frisch halten.

Einige Kompositionen haben noch ein Zusatzmerkmal: Man weiß nicht, wie sie wirklich klingen. Weil sie nicht fertig sind. Trotzdem werden sie viel und gern gespielt. Schuberts sprichwörtliche „Unvollendete“, Mahlers 10. Sinfonie – oder Mozarts Requiem. Dass man sie hören kann, ist das Verdienst von weniger berühmten Kollegen. Bei Mozart war das vor allem Franz Xaver Süßmayr, der Mozarts Totenmesse, über der dieser höchstselbst gestorben ist, in eine spielbare Fassung gebracht hat. Von Mozart stammen die Gesangsstimmen, beim Orchesterpart hingegen gab es oft nur Skizzen, manches fehlt komplett. Da war Süßmayrs Erfindungsreichtum gefordert.

Nicht alle seiner Lösungen sind auf Mozarts Niveau. Man hat sich dennoch an den Süßmayr’schen Mozart gewöhnt. Mitunter haben sich Dirigenten damit beholfen, den einen oder anderen satztechnischen Fehler diskret zu beheben. Gleichwohl hört man, wenn man heute das Requiem hört, mindestens zwei Komponisten: Mozart und Süßmayr.

Grund genug für den jungen französischen Komponisten Pierre-Henri Dutron, das Werk aufzubessern. Gleich in zwei Fassungen näherte er sich dem Fragment. Schrieb eine Version mit neuen Kompositionen für das Orchester und eine „Süßmayr Reloaded“-Fassung, auf dieser Einspielung zu hören, in der bloß Akzente anders gesetzt sind, die Bläser mal deutlicher hervortreten oder die Gesangssolisten, im „Lacrimosa“, einen kurzen Quartettauftritt haben, bevor der Chor, sonst von Anfang an dabei, seinen Einsatz hat.

Da der Chor der RIAS Kammerchor ist und das Orchester das Freiburger Barockorchester und alle zusammen unter dem experimentierfreudigen Dirigenten René Jacobs aufspielen, ist diese Fassung nicht nur anders als andere, sondern auch erfreulich klar und frisch. Das Tempo ist, wie heute üblich, flott. Die Beteiligten können aber locker mithalten. Und der Dramatik tut das allemal gut. Tim Caspar Boehme

Wolfgang Amadeus Mozart: „Requiem d-moll“, RIAS Kammerchor, Freiburger Barockorchester, René Jacobs (Harmonia Mundi)