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Mal nach Osten schauen: Das Postpunk-Quartett Belgrad und sein gleichnamiges Debütalbum

Von Annika Glunz

„Dreck und Blut, das bei Nacht gefriert / Das Bild der Lieben, das mit dem Akku stirbt“ – Textzeilen, die schwermütig anmuten. Sie klingen nach Flucht und Tod. Die Band, von der diese Zeilen stammen, heißt Belgrad und hat vor Kurzem ihr Debütalbum veröffentlicht – ein Werk, das auf Textebene von atmosphärischer Dichte und emotionaler Intensität gezeichnet ist wie von handfester Gesellschaftskritik und musikalisch ungeheuer druckvoll klingt.

Belgrad wurde 2015 von Hendrik Rosenkranz und Leo Leopoldowitsch gegründet, nachdem beide in Osteuropa unterwegs gewesen waren. Ihre Reiseeindrücke überwältigten die Musiker derart, dass sie nach der Rückkehr mit Songwriting begannen: „Wir haben tagelang an der Musik gefeilt“, resümiert Rosenkranz, „zwischendurch gingen wir feiern, danach haben wir die Euphorie genutzt, um weiterzuarbeiten.“ Vielleicht klingt das gleichnamige Album von Belgrad deshalb so intensiv. Dann stießen Stephan Mahler (Ex-Slime-Drummer) und Produzent Ron Henseler zum Projekt. Unterschiedliche Prägungen in subkulturellen Szenen in Hamburg, Dresden und Berlin schlagen sich auch im Sound nieder.

Was Belgrad stilistisch auszeichnet, lässt sich keinem bestimmten Genre zuordnen: Meist wird das Quartett irgendwo zwischen Postpunk und New Wave verortet. Rosenkranz und Leopoldowitsch scheren Zuschreibungen wenig: „Menschen definieren sich immer über Geschichten. Das war für den kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig. Und diese Geschichten bleiben hängen, darüber tauscht man sich aus, und so kommt man ein Stück weiter“, erklärt Leo­poldowitsch. Solche Geschichten sind dem deutschsprachigen Popmainstream abhanden gekommen, finden Belgrad: „Es wird immer über die gleiche Beziehungsscheiße gesungen, absolut langweilig“, sagt Leopoldowitsch. „Wir wollen auf anderem Wege vorankommen. Unser Anspruch ist es, nicht auf der Stelle zu treten“, fügt Rosenkranz hinzu.

Ein gutes Beispiel für eine solche Geschichte ist der Belgrad-Song „Schellack und Gewalt“, in dem Leopoldowitsch von einer Pianistin singt, die zu Sowjet­zeiten entführt wurde, um für Stalin zu spielen, der ihre Musik liebte: „Es gab nicht mal den Befehl, diese Frau nach Moskau zu bringen, Stalins Schergen sind davon ausgegangen und haben es aus Angst gemacht“, so Leopoldowitsch. „Mich interessiert, wie sich das Schicksal auf Obrigkeitshörigkeit zurückführen lässt, die strukturell auch anderswo vorkommt.“

Eine Story also, die Assoziationen weckt – genau wie Belgrad, der Bandname: „Generell geht es uns darum, etwas aufblitzen zu lassen, was anderswo Assoziationen hervorruft. Wir lieben Bilder und gehen spielerisch damit um. Und Belgrad hat alles: Trübsinn, Verzweiflung, aber auch positive Bezüge und eine wahnsinnige Geschichte“, so Rosenkranz.

Auch anderswo in Osteuropa fanden sie Inspiration: „Wenn du in einer ukrainischen Stadt wohnst, finden dort einmal pro Monat Konzerte statt. Niemand kann sich den Stil aussuchen, ob Metaller oder Punk, es wird genommen, was da ist. Dementsprechend groß ist der Hunger nach Kultur“, erzählt Leo­poldowitsch. Die Ukrainer hätten zwar die deutschen Texte nicht verstanden, aber das habe dazu geführt, „dass wir wahrgenommen haben, was Kern der Sache ist: Gefühle und kollektives Miteinander durch Musik erlebbar machen“, sagt Rosenkranz.

Miteinander – das scheint angesichts des Wahlergebnisses hierzulande bitter nötig zu sein. Zu seinen Gedanken zum Abschneiden der AfD befragt, findet Leopoldowitsch: „In durchökonomisierten Gesellschaften ist Politik nur Störfaktor; der Kern des Problems wird nicht thematisiert. Du kannst in entpolitisierten Gesellschaften Bürger keine politische Entscheidungen treffen lassen“, und Rosenkranz ergänzt: „Wenn wir ständig vom Wetter reden und nur von der Liebe gesungen wird, kann daraus keine Analyse erwachsen – und auch keine gute Musik.“

Belgrad: „Belgrad“ (Zeitstrafe/Indigo); auf Tour im Januar