Rot-Rot-Grün hebt ab

Tegel Im Parlament mühen sich Regierungschef Müller (SPD) und die Koalitionäre von Linken und Grünen, die Niederlage vom Sonntag als gar nicht so gewichtig darzustellen

Uff: eine Niederlage nicht als Niederlage darzustellen ist die hohe Kunst der Politik. Michael Müller am Donnerstag im Parlament Foto: W. Kumm/dpa

von Stefan Alberti

Der Redner vorn im Abgeordnetenhauses, er sieht aus wie Michael Müller. Auch seine Stimme klingt so. Aber es kann eigentlich nicht der normalerweise sachliche Regierungs- und SPD-Landeschef sein. Vor allem nicht, weil er vor zu Redebeginn alle im Parlament aufgefordert hat, jetzt mal in Sachen Tegel mit der Polemik aufzuhören. Doch was sagt der Mann, der aussieht wie Müller? Zwei Millionen Berliner hätten beim Volksentscheid am Sonntag gar nicht mitgemacht, und deshalb soll die Opposition nicht behaupten dürfen, die Bevölkerung habe für die Offenhaltung des Flughafens gestimmt.

An diesem Donnerstagvormittag stellen fast alle Redner der rot-rot-grünen Koalition erst fest, dass, ja, die Tegel-Fans eine Mehrheit bekommen haben – nur um dann an dieser Mehrheit herum zu kratzen. „Brutus ist ein ehrenwerter Mann, aber …“, ist dazu das literarische Redner-Vorbild bei Shakespeares „Julius Cäsar“. SPD, Linkspartei, Grüne, sie alle belobigen sich dafür, dass die „Nein“-Sager in den letzten Wochen vor der Abstimmung deutlich aufholten und am Ende nicht mehr 40, sondern 15 Prozentpunkte zurück lagen. Bloß gleichen sie dabei einem Läufer vom Berlin-Marathon, der sich dafür bejubelt, dass er nach verkorkster erster Rennhälfte in der zweiten schneller war als seine deutlich vor ihm ins Ziel gekommenen Lauftreff-Kumpels.

Müller versucht also, die Aussagekraft des Volksentscheids dadurch zu entwerten, dass zwei der geschätzt 3,7 Millionen Berliner am Sonntag nicht mit abstimmten. Das ist richtig – wenn man jedes Baby mitzählt und auch jeden sonstigen unter 18-Jährigen, statt sich an den 2,48 Millionen zu orientieren, die überhaupt stimmberechtigt waren. Von denen aber machen die 1,73 Millionen Abstimmer rund 70 Prozent aus. Am Volksentscheid über die Bebauung des Tempelhofer Feldes 2014 – den der damalige Senat auch verlor – beteiligten sich nur 46 Prozent.

Das sei hier so ausführlich dargestellt, weil es exemplarisch ist für die Versuche, den Entscheid zu entwerten. Und weil es so wenig zu jenem Michael Müller passt, der es bisher nicht nötig hatte, derart an Zahlen zu drehen. Überhaupt kritisiert er den Volksentscheid dafür, dass er von einer FDP-nahen Initiative ausging – unterschlagend, dass jene FDP beim Start des Unterschriftensammelns 2015 außerparlamentarische Opposition war, die in Umfragen bei zwei bis vier Prozent lag.

Neben aller Relativiererei der Niederlage brachte Regierungschef Michael Müller (SPD) am Donnerstag auch einen 5-Punkte-Plan als Reaktion auf den Tegel-Volksentscheid mit ins Parlament. Dessen letzter Punkt ist der zentrale: Müller will sich an der Schlichtung beim umstrittenen Projekt Stuttgart 21 orientieren, wo der jüngst verstorbene Heiner Geißler vermittelte, und eine „neutrale, anerkannte Persönlichkeit“ berufen. Sie soll eine „Kommission oder einen runden Tisch“ leiten und Bericht erstatten, wie Tegel rechtssicher offen zu halten ist. „Nichts wird an dieser Stelle schnell gehen“, sagte Müller voraus. (sta)

Müller FDP-Kritik überrascht auch deshalb, weil tags zuvor Michael Efler, Linkspartei-Abgeordneter und als langjähriger Vorständler von „Mehr Demokratie“ eine Instanz in Sachen Bürgerbeteiligung, in einem Gastbeitrag in der taz anders urteilte: Es sei “legitim, wenn gerade Oppositionsparteien, deren parlamentarische Anträge in der Regel von den Mehrheitsfraktionen abgelehnt werden, Volksbegehren ­initiieren“.

Raed Saleh, der SPD-Fraktionschef, ist an diesem Morgen der erste gewesen, der sich im Relativieren übt: Er stellt den mehr als 1,7 Millionen Ja-Sagern die „ehrlichen“ Initiativen für eine Schließung entgegen – und bekommt als Zwischenruf aus der CDU hören: „Und die Mehrheit der Bürger ist nicht ehrlich?“ Salehs Fazit: Auch wenn eine Mehrheit für die Offenhaltung gestimmt habe, „die Minderheitenposition werden wir weiter ernst nehmen.“

Immerhin räumt er ein, was Linksfraktionschef Udo Wolf bestreitet: Dass die Niederlage vom Sonntag auch eine Abrechnung mit der rot-rot-grünen Koalition war. „Ich habe das Votum verstanden“, sagt Saleh, „wir müssen liefern, und wir werden liefern.“

„Sie sind ein Regierungschef auf Abruf“

Florian Graf, CDU-Fraktionschef
Alles nur Scheindebatten?

Schließlich steht mit Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek die dritte im Bunde am Rednerpult. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen der Flughafen-Debatte und der mageren R2G-Bilanz nach über neun Monaten im Amt her. „Kontrollieren Sie die Regierung“, fordert sie die Opposition und sonstige Tegel-Offenhalter auf, „aber verschonen Sie uns mit Scheindebatten, und lassen Sie uns über die echten Probleme reden.“ Das ist schon mutig, ein Thema als ablenkend und unecht einzuordnen, das für die bislang heftigsten Diskussionen des Jahres und randvolle Debattensäle gesorgt hatte.

„Das ist genau das, was den Abstieg der Sozialdemokratie in dieser Stadt beschleunigen wird.“ CDU-Fraktionschef Florian Graf hat diesen Satz zu Beginn der Debatte gesagt, bevor Müller und seine Koalitionäre den Volksentscheid zu relativieren versuchen. Die SPD als der Kitt, der Berlin angeblich zusammenhält? „Mein Eindruck ist, Sie liegen wie Mehltau über dieser Stadt.“ Florian Grafs Fazit: „Es ist doch eh so, dass Ihre Tage gezählt sind – Sie sind ein Regierungschef auf Abruf.“