Fürchtet euch nicht!

AUS COTTBUSUND HENNIGSDORF ROBIN ALEXANDER

Cottbus „Die Streichung der Pendlerpauschale: Das ist eine Strafsteuer für den Osten“, ruft der Kandidat über den Platz. Das Publikum murrt. Dann rechnet der Redner vor, wenn Kirchhof käme, würde „jeder Arbeiter in den Lausitzer Energiebetrieben 160 Euro im Monat verlieren“, und davon werde „der Ackermann im Turm der Deutschen Bank“ entlastet. Das Publikum murrt lauter.

Vor der Stadthalle in Cottbus wehen rote Fahnen, aber es ist nicht Oskar Lafontaine, der mit Wut und starken Worten den neoliberalen Zeitgeist austreibt. Hier spricht kein Demagoge aus dem Westen, sondern ein Politiker von hier. Kein Ex-SEDler, sondern einer, der in der DDR den Wehrdienst verweigerte und die SPD neu gründete, als das noch verboten war. Heute wirbt Steffen Reiche, 45, Ex-Landesminister und Bundestagskandidat, nicht mehr mit „Schwerter zu Pflugscharen“, sondern mit handfesteren Parolen: „Deshalb am 18. September zwei Stimmen für den Erhalt der Pendlerpauschale. Zwei Stimmen für die SPD.“

Diese Wahl solle eine Abstimmung über die Agenda 2010 sein, hat der Kanzler gesagt. Dann müsste die SPD mit den Cottbussern etwas anderes besprechen: Warum am Arbeitsamt zwar jetzt ein glänzendes, zweisprachiges Schild hängt („Jobcenter Cottbus/Źěłowy centrum Chośebuz“), aber die „Kunden“ vom Fördern beim „Fördern und Fordern“ nicht viel merken. Oder warum das Arbeitslosengeld II niedriger ist als ALG I. Und das noch einmal niedriger als im Westen. Auch warum hier sechzehn Prozent arbeitslos sind, aber selbst im vietnamesischen Imbiss Polinnen kochen, die für diesen Job jeden Tag eine Stunde Anfahrt aus dem Nachbarland in Kauf nehmen. Ohne Kilometerpauschale.

Hennigsdorf Auch hier ist Brandenburg, aber ganz anders. Das arme Polen ist fern, das reiche Westberlin ist nah. Der sanierte Postplatz ist hübsch geworden. Nur die kleine KZ-Gedenkstätte im Stile eines preußischen Kriegerdenkmals erinnert noch an DDR. Vielleicht hat die CDU deshalb ihre Grillbude genau davor gestellt. Jörg Schönbohm beißt unter dem roten Winkel der politischen Häftlinge in eine Wurst. Er schwitzt, es ist heiß. Er hat noch mehr solcher Termine heute. Er weiß, er ist selbst schuld. Der brandenburgische Innenminister und CDU-Vorsitzende hat gesagt, was er denkt. Eine Serie von Kindsmorden, bei der die Nachbarschaft wegschaute, kommentierte er so: „Ich glaube, dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen ist für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft.“ Die Zeitungen haben geschrieben, er habe damit alle Ostdeutschen beleidigt. Schönbohm hat sich entschuldigt, aber seitdem ist die CDU in Brandenburg im Umfragetief, und weil der junge Ministerpräsident von der SPD so „warm“ herüberkommt, muss Schönbohm jetzt unter dem Motto „von Mensch zu Mensch“ in jedem Brandenburger Wahlkreis eine Extrarede halten.

Mitmensch Schönbohm spricht natürlich erst einmal von Mitmensch Kirchhof. Der werde ganz falsch verstanden: „Sein Konzept heißt für Brandenburg: Die überwiegende Zahl unserer Familien mit zwei Kindern zahlt überhaupt keine Steuer mehr.“

Kirchhofs Streichliste solle man in keinem Fall zu ernst nehmen, sagt er. Bittet er. Fleht er schließlich die skeptischen Gesichter an: „Wir wollen in keiner Weise, das ist so beschlossen und festgelegt, bitte glauben Sie mir das, wir wollen wirklich in keiner Weise besteuern, was die Übungsleiter in Sportvereinen bekommen.“

Jetzt, da Schönbohm die Brandenburger (233.810 Arbeitslose, pro Kopf Verschuldung 6.413 Euro) bei ihrem allerdringendsten Problem abgeholt hat, gönnt er sich einen Ausflug zu seinen Lieblingsthemen: „Wir kümmern uns um Kinder und Familien und nicht wie Rot-Grün nur um die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.“

Kein Zweifel, Rot-Grün wird Schönbohm fehlen. So leidenschaftlich, wie er über deren mangelnden Patriotismus („Die wollten den Tag der Deutschen Einheit durch einen islamischen Feiertag ersetzen“) schimpft, zieht sonst nur Oskar Lafontaine über das „internationale Finanzkapital“ her. Schönbohms Themen sind seit Jahren die gleichen: Der genetische Fingerabdruck („bei Moshammer hat es geklappt“), Graffiti als Sachbeschädigung und Straftat („ist schließlich eine Schweinerei“) und der Einsatz der Bundeswehr im Inneren („Das, was die in Kabul machen können, müssen sie auch bei uns machen können“).

Schönbohm erwähnt Angela Merkel, aber er wirbt nicht wirklich für ihr Programm. Prämienmodell im Gesundheitswesen – kommt bei Schönbohm nicht vor. Kündigungsschutz – so groß wird die Änderung nicht. Betriebliche Bündnisse – spielt er herunter. Erhöhung der Mehrwertsteuer – davon sind doch die wichtigsten Dinge ausgeschlossen.

Cottbus Die Menschen sind nicht wegen Steffen Reiche auf den Platz vor der Stadthalle gekommen. Sie wollen Franz Müntefering sehen. Den kennen sie aus dem Fernsehen. Müntefering reckt beide Daumen nach oben, dann krempelt er die Hemdsärmel hoch, was tatkräftig oder sogar kampfeslustig wirken soll. Doch die Großbildleinwand zeigt ein überarbeitetes, ja fahles Gesicht. Anders als der Kandidat Reiche und die vielen ehrenamtlichen sozialdemokratischen Wahlhelfer muss Müntefering die Agenda 2010 nicht nur nach außen vertreten. Der Partei- und Fraktionschef hat das Reformwerk maßgeblich mitbeschlossen. Aber hier, in Cottbus, erzählt er lieber von „Millionären, die im Ausland versteuern, wenn sie überhaupt versteuern“. Der Sauerländer lobt die Krippenbetreuung in der DDR, die nun auch im Westen eingeführt werden solle. Später argumentiert Müntefering, die Bilder von den Verwüstungen des Hurrikane in New Orleans zeigten, wofür man einen starken Staat brauche.

Das asoziale Kapital, der Staat als Erziehungsinstanz, die USA als unzivilisiertes Land – Müntefering knüpft an Vorstellungen an, die in der DDR systematisch gepflegt wurden und heute noch in Ostdeutschland verbreitet sind. Das kommt an. Wenn Müntefering hingegen sein Manuskript verlässt und Dönekes aus seiner Jugend in Westfalen erzählt, verliert er das Cottbusser Publikum.

Aber er hat es bald wieder. Als er bei „Frau Merkel“ und dem „Herrn Professor“ ist, echauffiert sich der Parteivorsitzende gekonnt: „Die Pendlerpauschale wird zusammenkartätscht.“ Die Zuhörer klatschen begeistert, auch wenn das nur die verstehen, die noch in der preußenbewussten DDR Geschichtsunterricht hatten: Kronprinz Wilhelm ließ 1848 die revolutionären Berliner Massen mit Kanonen „zusammenkartätschen“. Die jüngere Vergangenheit übergeht Müntefering in Cottbus. Kein Wort zu Hartz, keins zur Agenda 2010, kein Wort zu „Fördern und Fordern“. Zu den Sozialreformen nur ein vages, aber hörbares Versprechen: „Wir wissen, manchmal muss man zwei Schritte zurück.“

Henningsdorf Auch über den Postplatz, wo Schönbohm nach seiner Rede von Anhängern umringt ist, weht an diesem Mittag keine kalte, neoliberale Zugluft. Hier steht vielmehr ein Mief, der anderswo längst gelüftet wurde. Eine Frau erzählt, Asylbewerber würden in deutschen Knästen geschult, ihre Pässe zu vernichten. Schönbohm antwortet, er habe schon „viel Senge bekommen, weil ich gesagt haben, so viele wie möglich abschieben. Aber immer rechtsstaatlich.“ Ein Mann fragt, ob deutsche Gefallene im Zweiten Weltkrieg nicht umgebettet werden könnten. Schönbohm gibt ihm Recht, es gehe nicht an, „dass Opfer des sowjetischen Geheimdiensts einfach irgendwo verscharrt blieben“.

Solche Leute geben Schönbohm das Gefühl, im Osten zu Hause zu sein. Der westdeutsch sozialisierte setzt bei den Traditionen des Obrigkeitsstaates an, die in der DDR nie gebrochen wurden. Ostdeutschland minus Kommunisten, das ist für Schönbohm ein Deutschland ohne Multikulti, ohne Werterelativismus, ohne Toskana-Fraktion und Christopher Street Day. Mit seiner klaren Kante gegen alles Linke, Fremde und Bunte hat er tatsächlich jede Menge Fans im Osten gewonnen – aber noch nie eine Wahl.

Und die Linkspartei? Das eigentliche Phänomen dieses Wahlkampfes im Osten spielt bei SPD und CDU erstaunlicherweise kaum eine Rolle. In Cottbus hat Franz Müntefering nur einen kleinen Witz über Oskar Lafontaines Villa gemacht. Und in Hennigsdorf hat Jörg Schönbohm geschimpft, Gysi und Lafontaine seien „noch immer gegen die deutsche Einheit“. Langfristig aber müsse man sich keine Sorgen machen. Erfolg habe nur, wer ehrlich ist mit dem Volk.