Gummibärchen statt Whisky
: „Kulturwende in Deutschland“

AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

In Brüssel verfolgt man gespannt den deutschen Wahlkampf. „Deutschland ist der größte Mitgliedsstaat. Die Deutschen haben die meisten Abgeordneten im EU-Parlament, und auch im Ministerrat wiegt ihre Stimme besonders schwer“, sagt Richard Corbett, Labour-Abgeordneter im EU-Parlament. So wie er sehen die meisten Beobachter in Brüssel die Situation: Von den Wahlen in Deutschland hängt der europapolitische Kurs der nächsten Jahre ab.

Nur ein Beispiel: Die rot-grüne Bundesregierung unterstützte bisher den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober. Angela Merkel dagegen wünscht sich noch immer eine privilegierte Partnerschaft, keine Mitgliedschaft. „Wir schweben völlig in der Luft, was die weitere Planung betrifft. Denn bei den nächsten Treffen wird noch immer die alte Regierung die Geschäfte führen. Vielleicht hat sie dann aber schon kein Mandat mehr. Das bringt große Instabilität“, sagt der grüne Abgeordnete Gérard Onesta.

Bei einem anderen Beitrittsland, in Rumänien, macht man sich dagegen weniger Sorgen um einen Regierungswechsel. Obwohl die CDU immer wieder vor einer zu schnellen Erweiterung warnt. Botschafter Ion Jinga: „Wir sind nicht Schuld an den wirtschaftlichen Problemen in anderen EU-Ländern. Unsere Wirtschaft wuchs 2004 um 8,5 Prozent. Das machen uns die alten EU-Mitgliedsstaaten nicht so leicht nach. Sie sollten also nicht davon sprechen, wir seien eine Gefahr für ihren Arbeitsmarkt.“

Jinga geht davon aus, dass Merkel zu den Beitrittsversprechungen der rot-grünen Regierung steht. „Bei uns im Land haben die Deutschen einen besonders guten Ruf als seriöse Menschen. Merkel wird die Versprechungen halten, nicht zuletzt, weil sie Deutsche ist.

Zu einer möglichen schwarz-gelben Bundesregierung äußern sich die meisten in Brüssel vorsichtig. Eine überraschende Ausnahme machte bisher allein die niederländische Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes, die sich in einem Beitrag für die Zeitung Trouw klar für Angela Merkel aussprach. Eine Frau als Regierungschefin führe zu einer „Kulturwende“ in Deutschland. Männer würden bürokratische Strukturen in Stand halten, Frauen sie durchbrechen, schreibt die konservative EU-Politikerin. Und dies werde auch positive Folgen für Europa haben.

Die Sprecherin der EU-Kommission Françoise le Bail erklärte dagegen, ihre Behörde werde selbstverständlich mit jeder neuen Regierung eng zusammenarbeiten. Außerdem seien die europapolitischen Ansichten von Merkels Team einfach viel zu wenig bekannt, um jetzt schon ein Urteil zu fällen. „Von einigen ihrer Mitstreiter – etwa Wolfgang Schäuble – wissen wir, dass sie überzeugte Europäer sind. Von anderen wissen wir überhaupt nichts“, meint John Palmer, Direktor des Brüsseler Think-Tanks European Policy Center. Der Name des möglichen Außenministers Wolfgang Gerhardt sagt in Brüssel bisher nur den allerwenigsten etwas.

Eine Befürchtung gibt es in Brüssel: Sowohl die SPD als auch die CDU werben im Wahlkampf fast ausschließlich mit wirtschaftspolitischen Themen. „Wenn sich alle so sehr auf die nationalen Probleme konzentrieren, könnte Europa zu einer zweiten Priorität werden“, fürchtet der konservative belgische Abgeordnete Mathieu Grosch. Und das, fügt John Palmer hinzu, wäre für ganz Europa von Nachteil: „Ein desinteressiertes Deutschland können wir uns nicht leisten.“ Sollte Merkel Kanzlerin werden, dürfte ihr erster großer Auftritt auf der EU-Bühne der Gipfel in London Ende Oktober sein. Dort soll über die Zukunft des europäischen Sozialmodells diskutiert werden.

„Angela Merkel ist gut für Europa“
VON RALF SOTSCHECK

„Weder die CDU noch die FDP sind Liberalisierer im angelsächsischen Stil“, bedauert die Financial Times. Sie seien vielmehr Anhänger der sozialen Marktwirtschaft, bei der Arbeitnehmer ein Mitspracherecht bei der Unternehmensführung haben, schreibt das Blatt mit gerümpfter Nase. Aber wenigstens werde Merkels Arbeitsmarktreform zu verstärktem Wettbewerb führen. Allein schon deshalb erhofft sich die lachsfarbene Wirtschaftszeitung einen CDU-Sieg.

Die deutschen Wahlen seien wichtig, findet die Financial Times, weil sie den Deutschen die Gelegenheit bieten, sich für einen echten Richtungswechsel zu entscheiden. Für Europa seien die Wahlen aber genauso wichtig, weil ein Merkel-Sieg die Chance für EU-weite Wirtschaftsreformen eröffne. Nur mit Merkel als Kanzlerin könne die Lähmung der EU nach dem französischen und niederländischen Nein zur EU-Verfassung überwunden werden.

Das Wirtschaftsblatt ist nur eine von vielen britischen Zeitungen, die in diesen Tagen auf einen Neuanfang in Deutschland setzen. Selbst auf der linken Seite des politischen Spektrums. So schreibt der Guardian-Kommentator Martin Kettle: „Ein halbes Jahrhundert lang war die SPD das Modell für eine nichtmarxistische Partei der Linken, die für soziale Gerechtigkeit stand und damit Wahlen gewann. So wie die europäische Linke einst vom Erfolg der SPD gelernt hat, muss sie nun von ihrer Niederlage lernen. Eine Merkel-Regierung ist gut für Europa. Es ist ein klares Urteil über die deutsche Linke, dass man das mit solcher Zuversicht sagen kann.“

So wie viele Labour-Politiker vor sieben Jahren Gerhard Schröder bejubelten, so umwerben sie jetzt Angela Merkel. Der Medienkanzler habe als Führungskraft versagt, weil er notwendige Reformen nicht gegen die eigene Partei durchgesetzt habe. Deutschland unter Schröder gilt als „nach innen gewandt“. Man sei protektionistisch und feindselig gegen die Versuche der EU-Kommission, den Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Finanzmärkten zu liberalisieren“. Dieser Antiliberalismus, gepaart mit Antiamerikanismus, sei für die deutsch-französische Allianz unter Schröder und Chirac charakteristisch, meint etwa die Financial Times. Merkel werde zwar gleich nach ihrer Wahl nach Paris reisen, aber ihre Bekräftigung des Bündnisses mit Frankreich werde ein bloßes Lippenbekenntnis sein.

Vergleiche zwischen Angela Merkel und der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher sind in Großbritannien natürlich häufig. Allerdings fallen sie nicht immer positiv aus. Merkel wird als dröge und todernst bezeichnet. Mit Charisma sei sie nicht gerade gesegnet. Und das Boulevardblatt Sun schrieb: Merkel bevorzugt Gummibärchen, Thatcher dagegen einen ordentlichen Whisky.

„Von Deutschland hängt Europa ab“
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

In Polen heißt sie schon „Frau Kanzlerin“. Angela Merkel hat bei den meisten polnischen Politikern einen dicken Stein im Brett. Die Hoffnung auf eine außenpolitische Kehrtwende Deutschlands lässt viele Politiker jede diplomatische Vorsicht vergessen. Selbst Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, der in den letzten sieben Jahren gut mit Bundeskanzler Schröder zusammenarbeitete, stimmt in den „Weg mit Schröder“-Chor ein. Im polnischen Radio meinte er: „Aus der Sicht der Europäischen Union, einer gemeinsamen EU-Politik gegenüber Russland, ist es nicht gut, wenn ein wichtiges Land, Deutschland, eine Politik über unsere Köpfe und die der EU hinweg betreibt“.

Kwasniewski erwartet von Merkel eine neue Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Der FAZ gegenüber sagte er: „Die Wahl in Deutschland ist eines der wichtigsten Ereignisse für die Zukunft Europas. […] Ich bin überzeugt, dass die Zukunft Europas weitgehend von der Zukunft Deutschlands abhängt.“

Bei ihrem Besuch in Warschau vor einem Monat gewann Angela Merkel vor allem mit dem Hinweis Respekt, dass künftig nichts über die „Köpfe der Polen hinweg“ passieren solle. Daher erwartet ganz Polen nun von der künftigen Kanzlerin, dass sie den vor einer Woche unterzeichneten deutsch-russischen Vertrag über den Bau einer Erdgaspipeline durch die Ostsee rückgängig macht. „Wir nehmen sie beim Wort!“, hieß es fast drohend in der Gazeta Wyborcza.

Auch die Politik Deutschlands gegenüber den USA werde sich unter Merkel diametral ändern, erwarten viele polnische Politiker und Publizisten. In Zukunft werde man hoffentlich Merkel öfter neben Präsident George W. Bush sehen als Schröder an der Seite Putins.

Andererseits lehnen polnische Politiker das von der CDU sogar ins Wahlprogramm aufgenommene „Zentrum gegen Vertreibungen“ durch die Bank ab. In aller Schärfe machten sowohl Staatspräsident wie Regierungschef Angela Merkel bei ihrem Besuch in Warschau klar, dass mit ihnen dieses Zentrum nicht zu machen sei. Da ja Merkel versprochen hat, nichts über die Köpfe der Polen hinweg zu entscheiden, glauben viele Polen, dass das Zentrum gegen Vertreibungen nur als „Lockvogel“ für die Wahlstimmen der Vertriebenen eingesetzt wurde. Und unter Frau Kanzlerin Merkel nicht realisiert wird.

„Große Koalition ohne Konturen“
AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Wenige Tage vor der Bundestagswahl hat sich auch in Frankreich herumgesprochen, dass bei den Deutschen etwas los ist. Die Medien, von denen längst nicht alle feste KorrespondentInnen in Deutschland haben, schickten Sondergesandte auf die Reise. Und die übermitteln jetzt beinahe tägliche ihre Berichte. Die Distanz zum Wahlkampf in Deutschland bleibt dennoch groß. Kaum jemand mag Position beziehen. Schon gar nicht Erwartungen an die Politik der künftigen Regierung knüpfen.

Eine Erklärung für diese deutsch-französische Distanz findet sich in der Kampagne für das Referendum über die EU-Verfassung. Im Frühjahr hatten Verfassungsbefürworter massiv Unterstützer aus Deutschland eingeladen. Die Niederlage des „Ja“-Lagers wurde damit auch zu einer Niederlage deutscher Politiker. Eine Wiederholung will man nun vermeiden. Niemand in Frankreich möchte auf der Seite der Wahlverlierer stehen.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich Frankreich in einem Vorwahlkampf befindet. Zwar stehen die Präsidentschaftswahlen erst 2007 an. Doch schon jetzt kämpfen in allen Lagern die möglichen Kandidaten gegeneinander. Auf der rechten Seite stehen sich UMP-Parteichef Sarkozy und Premier de Villepin gegenüber. Merkel steht Sarkozy am nächsten. Wie sie will er die Beziehungen zu den USA verbessern. Wie sie will er „Liberalisierungshemmnisse“ abschaffen. Und wie sie ist er gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.

Bei Regierungschef de Villepin ist das alles ein wenig anders. Er steht in direkter Gefolgschaft von Präsident Chirac, dem er lange als Generalsekretär diente. Mit den USA hat de Villepin seit seiner legendären Rede gegen einen Irakkrieg im UN-Sicherheitsrat eine offene Rechnung.

Dass Deutschland bald eine neue Regierung bekommen könnte, beunruhigt in Frankreich nicht sonderlich. Die Erfahrung zeigt, dass die bilateralen Beziehungen funktionieren. Auch dann, wenn auf beiden Rheinseiten unterschiedliche politische Strömungen am Ruder sind. Immer mehr französische BeobachterInnen stellen in diesen Tagen zudem fest, dass die programmatischen Unterschiede zwischen den großen Parteien in Deutschland gering sind. Interessant sind für sie vor allem zwei Dinge: dass 16 Jahre nach der deutschen Vereinigung erstmals eine Linkspartei in den Bundestag einziehen wird. Und dass CDU/CSU und SPD sich immer stärker auf eine große Koalition vorbereiten. Dies jedoch bedeute, so französische Medien, eine „schwache und konturlose“ Politik. Für solche Koalitionen sind die FranzösInnen ExpertInnen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie neun Jahre lang „Kohabitationen“ erlebt – zwischen Staatspräsidenten und Regierungen, die unterschiedlichen Lagern angehörten.