crime scene: Die Wiege der Kriminalliteratur: Ahmet Ümits herausragender Roman „Nacht und Nebel“
Der Aynalikavak Kasri gehört zu den weniger prominenten Sehenswürdigkeiten in Istanbul. Im Reiseführer erfährt man gerade einmal, dass der Palast im frühen 18. Jahrhundert im Stil der traditionellen türkischen Architektur erbaut worden war – inmitten einer traumhaften Gartenanlage und mit ausgezeichnetem Blick über das Goldene Horn. Gänzlich unbekannt ist allerdings die Tatsache, dass hier vor rund hundert Jahren die damals noch junge Gattung des Kriminalromans für das Osmanische Reich entdeckt wurde: Ende des 19. Jahrhunderts richtete Sultan Abdülhamit II. im Aynalikavak Kasri eine Art Büro zur Informationsbeschaffung ein – und ließ hier nicht nur politische Aufsätze aus westeuropäischen Zeitschriften übersetzen, sondern auch Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten.
Fast bis in die Gegenwart wurde der türkische Krimimarkt ausschließlich durch solche westlichen Importe bestimmt. Es liegt also eine gewisse Ironie darin, wenn Ahmet Ümit in seinem herausragenden Roman „Nacht und Nebel“ ausgerechnet besagten Palast zum Schauplatz der Handlung macht und in dem „Paradies inmitten der Betonwüste Istanbuls“ den militärischen Nachrichtendienst unterbringt. Die idyllische Kulisse der Gartenanlage mit ihren „Rotpinien, dichten Kastanienbäumen und weißstämmigen Platanen“ ist selbstverständlich trügerisch: In den Hinterzimmern des Aynalikavak Kasri werden Geständnisse mit Foltermethoden erzwungen, und während der blutigen Einsätze gegen Terroristen kommt es immer wieder zu „außergerichtlichen Hinrichtungen“, für die sich niemand rechtfertigen muss. Für die Regierung, erklärt Ümits zweifelhafter Held Sedat einem zimperlichen Mitarbeiter, „ist der Kampf gegen den Terrorismus Verteidigungspolitik“. In der Türkei hat dieser „war against terrorism“ eine lange Tradition und gehört im Fall von Sedat sogar zum Familienerbe. Der Sicherheitsbeamte stammt aus einer Dynastie von Geheimdienstmitarbeitern, und erst als er bei einem Einsatz einen Freund und Kollegen verliert, beginnt er an seiner Behörde und ihren starren, aus der Zeit des Militärputsches stammenden Strukturen zu zweifeln. Als er während eines Einsatzes in einen Hinterhalt gelockt wird und kurz danach seine Geliebte spurlos verschwindet, ermittelt er auf eigene Faust.
Trotz allem hat der 1960 geborene Ahmet Ümit, der lange Zeit im Untergrund gearbeitet hat, mit „Nacht und Nebel“ keinen politischen Thriller geschrieben. Die sich nur langsam stabilisierende Situation in der Türkei der Neunzigerjahre – 1995 wurde der Roman dort veröffentlicht – taucht nur in Anspielungen auf: Während die „blutigen Bilder“ in den Fernsehnachrichten ohne konkreten Inhalt bleiben, wird ein Polizist „in den Osten“, also nach Kurdistan versetzt, und die Jagd auf „armenische Terroristen“ versteckt sich in einem Nebensatz. Das alles ist nur der Hintergrund für das Schicksal eines in die Jahre gekommenen Sicherheitspolizisten, der seiner traurigen Ehe durch eine unmenschliche Arbeit entkommen will und sich dann aus der Arbeit in die Affäre mit einer jüngeren Frau flüchtet. Doch jede Flucht endet dort, wo sie begonnen hat; auch Sedat muss das erkennen. Als der Nebel sich lichtet und er in einer albtraumhaften Szene die Antworten auf seine Fragen bekommt, hat er keine politische Verschwörung aufgedeckt, sondern nach und nach die grausame Wahrheit über seine eigene Beteiligung am Tod der Geliebten erfahren.
Das ist wohl der richtige Moment, um an Sophokles und seinen mit Schuld beladenen „König Ödipus“ zu erinnern– und daran, dass die Kriminalliteratur ihre Ursprünge nicht in den verregneten Straßen von London oder in Downtown L. A. hat, sondern vor 2.500 Jahren am Mittelmeer entstanden ist. Dank Ahmet Ümit ist zumindest die Türkei heute nicht mehr auf Re-Importe angewiesen. KOLJA MENSING
Ahmet Ümit: „Nacht und Nebel“. Aus dem Türkischen von Wolfgang Scharlipp. Unionsverlag, Zürich 2005. 365 S., 19,90 Euro
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