Meister der Alltagswelt

Kino Zahlreiche Ausstellungen und Filmreihen in Berlin würdigen den 2014 verstorbenen Regisseur Harun Farocki

Über Vorstellungen filmischen Erzählens: „Erzählen“ (22. 9., 21 Uhr), Ingemo Engström, Harun Farocki, BRD 1975 Foto: Arsenal

von Fabian Tietke

Im Februar 1990, drei Monate nach dem Fall der Mauer, läuft im Internationalen Forum des Jungen Films eine Bestandsaufnahme der Bundesrepublik Deutschland: „Leben – BRD“. Regisseur des Films ist Harun Farocki. Der Film montiert Aufnahmen von Materialprüfungen, Lehrsituationen, Beratungsgesprächen und Populärkultur wie ein Pornospiel zu einem Kaleidoskop des Alltags in der Bundesrepublik. Wie in vielen anderen Filmen spricht aus „Leben – BRD“ eine durchaus spielerische Faszination für das Systemische, das sich in den Aufnahmen der Materialprüfung des Versandhauses Quelle ebenso zeigt wie in den Lehr- und Beratungssituationen. In den 1990er Jahren sollten sich die Transformationsprozesse der Wiedervereinigung in einigen Filmen von Farocki rund um Umschulungen von Angestellten ehemaliger Baufirmen („Die Umschulung“, 1994) und Vermarktungsstrategien („Der Auftritt“, 1996) spiegeln.

Im Juli 2014 ist Harun Farocki gestorben. Seit etwa zwei Jahren arbeitete das Harun-Farocki-Ins­titut daran, eine „Plattform zur Erforschung von Farockis visueller und diskursiver Praxis“ zu werden und als „flexible Struktur für neue Projekte“ zu fungieren, „die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bildkulturen analysieren“. In dieser Woche startet das Institut gleich einen ganzen Cluster von Projekten mit diesem Ziel.

Im Neuen Berliner Kunstverein und der Savvy Contemporary eröffnen zwei Ausstellungen, das Kino Arsenal startet am Freitag eine Werkschau Farockis, die auch Nebenstränge wie dessen Arbeiten für die Sesamstraße sichtbar macht, und im Oktober folgen Workshops und Gespräche im HKW und im silent green.

Ein Foto vom 11. April 1968 führt zurück zu den Anfängen Farockis: Ein junger Mann führt einen Demonstrationszug durch eine nächtliche Straße in Westberlin. Der junge Mann trägt trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille, in der Hand ein Megafon. Der Mann mit der Sonnenbrille ist Harun Farocki. Anlass ist das Attentat auf Rudi Dutschke, einen Kopf der Studierendenbewegung der 60er Jahre, wenige Stunden zuvor. Ziel der Demonstration ist die Zentrale des Springer-Verlags Kreuzberg. Die Studierenden sehen in der Hetze gegen ihre Bewegung eine Anstachelung zum Attentat. Anderthalb Jahre zuvor hat Farocki sein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) aufgenommen, ein halbes Jahr später wird er gemeinsam mit 17 weiteren Studenten wegen eines Konflikts mit der Akademie relegiert.

„Erkennen und Verfolgen“ analysiert Bilder von ferngesteuerten Waffen

In der Zeit nach der Filmakademie entstehen politische Filme, in denen sich einerseits die Militanz der Zeit spiegelt und andererseits der Zug zum Lehrfilm. Mit „Remember Tommorow is the First Day of the Rest of Your Life“ kommt 1972 die Wende zu einer neuen Arbeitsweise: der Film montiert die Arbeit eines DJs beim American Forces Network (AFN) mit einer Autofahrt. Die Hinwendung zur Dokumentation von Arbeit sollte Farocki den Rest seines Lebens begleiten.

Im Jahr darauf tritt mit „Der Ärger mit den Bildern“ ein weiteres Element des Werks Farockis hinzu: die Analyse von Filmbildern im Medium Film. In diesen analytischen Arbeiten trifft Farocki Ende der 80er Jahre eine Entscheidung, die seine weitere Arbeit prägen werden: auf erläuternde Kommentare zu verzichten. Die Bilder kommentieren sich selbst. In „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“ von 1988, Farockis erster Annäherung an die Bilder der deutschen Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus, sind noch nüchterne Reste eines Kommentars vorhanden. „Erkennen und Verfolgen“ von 2003 analysiert Bilder ferngesteuerter Waffen, wie sie kurz zuvor im ersten Golfkrieg der USA gegen den Irak medienwirksam zum Einsatz kamen und die Illusion von Präzision vermittelten. 2007 schließlich nahm sich Farocki einiger berühmt gewordener Aufnahmen aus dem „Durchgangslagers Westerbork“ an, die in nahezu jeder Dokumentation zur Vernichtungspolitik ungekennzeichnet verwendet werden. Farocki unterzieht die Bilder einer präzisen Analyse, die der Situation bei der Sichtung von Material am Schneidetisch gleicht, die Bilder laufen lässt, zurückfährt, Geschwindigkeit reduziert. Wenige Filmemacher haben das Filmbild als Bild so ernst genommen wie Harun Farocki, wenige aus der Analyse von Bildern der Alltagskultur solche eindrucksvollen Filme gemacht.

Ausstellungen: Neuer Berliner Kunstverein und Savvy Contemporary, ab 13. 9., Werkschau Harun Farocki: Kino Arsenal, ab 15. 9., Workshops im HKW und silent green, 18.–21. 10.