Das Gefühl einer Kanonisierung

ERINNERUNGSARBEIT Zur Eröffnung des Archivs von Christoph Schlingensief in der Akademie der Künste am Wochenende schaute auch Wim Wenders vorbei, und Patti Smith sang ein paar Lieder. Das Publikum sang mit

Später hat er das Gefühl, in seinem Leben sechs Personen darstellen zu müssen, weil seine Eltern sich sechs Kinder gewünscht hatten

VON DETLEF KUHLBRODT

Etwas mehr als zwei Jahre nach dem Tod von Christoph Schlingensief öffnete die Akademie der Künste am Samstagabend sein Archiv für die Öffentlichkeit. Er hatte es bereits zu Lebzeiten der Akademie vermacht. Das Archiv umfasst 56 laufende Meter. Mit einem Abend zu Ehren des Künstlers erinnerten seine Witwe Aino Laberenz, Werner Nekes, Jürgen Flimm, der Sammler Harald Falckenberg und viele andere an den Verstorbenen.

Der Titel des Abends – „Intensivstationen“ – passte sehr gut. Klaus Staeck war kurz zuvor schwer gestürzt. Das Gebiss erschüttert, ein Fuß wohl gebrochen, die Nase kaputt: „Aber fröhlich sind wir heut Abend hier“, sagte der Akademie-Präsident und erzählte unter anderem, dass die Karte mit seiner Telefonnummer, die ihm Schlingensief einmal gegeben hatte, mit „Christoph Beuys“ unterzeichnet worden war.

Manchmal stöhnte Staeck kurz vor Schmerzen, und das Publikum schmunzelte. Nach den einleitenden Worten ging’s dann ins Krankenhaus.

Sitzgruppe aus Sofas

Das Arrangement auf der Bühne entsprach dem der Action-Talkshow-Serie „Piloten“, die Schlingensief zusammen mit der Akademie der Künste Ende 2007 veranstaltet hatte und in deren erster Folge – unter anderem mit Klaus Staeck – es um „Krankheit“ gegangen war. Die Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln drehte sich sanft. Es war eine Art Nummernrevue: Martin Eder las Passagen aus der nun erschienenen Schlingensief-Autobiografie „Ich weiß, ich war’s“. Die erste war eine Art Urszene: der Vater zeigt Urlaubsaufnahmen, die er mit seiner Doppel-8-Kamera aufgenommen hatte. Beim Umlegen der Spulen hatte er etwas falsch gemacht, sodass eine Doppelbelichtung entstand. Fasziniert schaut der kleine Junge auf die Bilder und kann nicht begreifen, wie es kommt, dass in der Projektion plötzlich Leute über seinen Bauch laufen, obgleich es in Wirklichkeit doch gar nicht so war. Später hat er das Gefühl, in seinem Leben sechs Personen darstellen zu müssen, weil seine Eltern sich sechs Kinder gewünscht hatten, er aber Einzelkind war.

Wolfgang Höbel, Helge Malchow vom KiWi-Verlag und Aino Laberenz redeten über die Autobiografie, die Schlingensiefs Witwe mit Archivmaterial zu Ende gebracht hatte. Aino Laberenz sprach angenehm unpathetisch.

Friedrich Küppersbusch präsentierte zwei unglaublich komische Beiträge, die Schlingensief Anfang der 90er Jahre für dessen „ZAK“-Magazin gemacht hatte. Der Opernregisseur und Intendant Jürgen Flimm berichtete von der Zusammenarbeit mit Schlingensief bei der „Kirche der Angst“ in der Zeit, als Schlingensief schon schwer krank war. „Es war wahnsinnig schön, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Der Fluxus-Sammler Harald Falckenberg berichtete vom Animatographen und Schlingensiefs Suche nach einer anderen Erzählstruktur. Die eingespielten Filmausschnitte erinnerten an das berühmte Beatles-Stück „Revolution No. 9“. Der Filmregisseur Werner Nekes, eine der Schlingensief’schen Vaterfiguren, erzählte, wie Schlingensief 1980 bei ihm vorbeikam und bis 1990 blieb, um alles über Film zu lernen, und zeigte die tolle Passage aus seinem tollen Film „Johnny Flash“(1986), in der Helge Schneider als Christoph Schlingensief den Punksong „Alles ist mir egal“ aufführt.

Dann setzten sich Wim Wenders und Patti Smith in das Sitzmöbelarrangement. Die Sängerin hatte Schlingensief in Bayreuth kennengelernt. Wie Jesus seinen Jüngern hätte Schlingensief ihr damals gesagt: „Komm mit nach Afrika“, und so war sie dann auch bei seinem Operndorfprojekt dabei gewesen. Wegen der Sprachbarriere hätte man eher Energien als Worte ausgetauscht. Wenders las aus Schlingensiefs Biografie die Passage, die von ihrer ersten Begegnung, 1982, erzählt. Weil er so gern auf die Münchner Filmhochschule gewollt hatte, hatte Schlingensief den ebenfalls in Oberhausen lebenden Vater von Wenders angerufen. Wenders’ Vater sagte also, sein Sohn sei gerade in Venedig auf den Filmfestspielen, Schlingensief passte ihn dort auch tatsächlich ab. Weil gerade rauskam, dass Wenders den Goldenen Löwen für „Stand der Dinge“ gewonnen hatte, blieb die Begegnung jedoch recht kurz.

Zum Abschluss sang Patti Smith noch ein paar Lieder und endete mit einer A-cappella-Version von „Because the Night“, bei der ungefähr die Hälfte des Publikums den Refrain sang.

Der Abend war schön. Man dachte an die Begegnungen mit dem lebenden Künstler, an die Schlingensief-Nacht vor zwei Jahren in der Volksbühne, bei der er irgendwie noch lebendig schien. Manche hatten das Gefühl einer Kanonisierung. Das lag vermutlich daran, dass keiner seiner chaotischen Mitstreiter auf der Bühne gewesen war, und vor allem an der Zeit, die vergangen ist.