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: Eine gesellige Schildkrötendame

Die rote Schildkröte“ (Japan/ F 2016; Regie: Michael Dudok de Wit)

Das legen­dä­re japanische Anime-Studio Ghibli ist im 33. Jahr seiner Existenz in der Krise. Gegründet wurde es 1985 von den beiden Großmeistern Isao Takahata und Hayao Miyazaki, die nach Erfolgen bei anderen Firmen unter dem Dach des Studios ein großes Werk nach dem anderen schufen. Takahata, inzwischen über achtzig, ist von den beiden der Experimentierfreudigere, wechselt wild zwischen den Stilen und hat mit seinem letzten Film „Die Legende der Prinzessin Kagaya“ ein sublimes Alterswerk vorgelegt.

Miyazaki, jetzt Mitte siebzig, ist in seinen Mixturen aus oft europäischen Stoffen und einer sehr eigenen Wendung der Liebe zu allem, was lebt oder durch die Animation zum Leben erweckt werden kann, stärker wiedererkennbar. Als Miyazaki vor wenigen Jahren seinen Rückzug in den Ruhestand verkündete, verordnete sich das Studio selbst eine Pause. Anfang 2017 hat Mi­ya­zaki freilich erklärt, er habe ein neues Spielfilmprojekt.

Im vergangenen Jahr erblickte mit „Die rote Schildkröte“ trotz allem ein weiterer Ghibli-Film das Licht der Welt. „Künstlerischer Produzent“ – was immer das heißt – ist Isao Takahata, das Studio teilt sich die Produktion mit mehreren europäischen Firmen. Der Regisseur ist erstmals in der Ghibli-Geschichte nicht japanischer Herkunft, sondern der Niederländer Michael Dudok de Wit, der das Drehbuch mit der Regisseurin Pascale Ferran verfasst hat. „Die rote Schildkröte“ war durchaus ein Erfolg, er wurde in Cannes gezeigt und für den Animations-Oscar nominiert. Es fehlt dem Film aber doch eines: die Ghibli-Magie.

Miyazakis Filme spielen stets in Welten der Fülle, in denen es krabbelt, in denen alles sich wandeln kann, in denen noch der letzte Winkel belebt ist. Dazu ist Michael Dudok de Wits Anime ein Gegenentwurf, auch wenn hier und da als kleine ­Miyazaki-Hommage ein niedliches Schalentier krabbelt und winkt.

Von Beginn an ist alles sehr reduziert. Reduziert sind die Bilder, oft fast zum Stillleben stilisiert. Und reduziert, sehr reduziert ist die Geschichte: Ein Mann wird auf eine Insel gespült, sie liegt einsam im Meer. Wir wissen nichts über den Mann und werden wenig erfahren. Er baut sich ein Floß, aber eine Macht hält ihn immer wieder zurück: Eine rote Schildkröte wird sich als die Gegnerin erweisen. Er zerrt sie an Land, dreht sie auf den Rücken, will sie erschlagen. Unerwartet schält sich aus dem Panzer eine schöne Frau. Ein paar Wegblenden später haben die beiden ein Kind. Es wächst heran. Die Zeit vergeht. Der Mann, die Frau altern.

Eine Kleinfamilie auf einer kleinen Insel, die später von einem Tsunami um ein Haar ausgelöscht wird. Fast archetypisch sind sie der Mann, die Frau, das Kind. Sie sprechen nicht oder kommen jedenfalls über Laute des Rufens nicht hinaus. Sie sind frei auf dieser Insel, und sie sind Gefangene der Natur.

Dieses Geworfensein in einen Zustand, der ein vorgesellschaftlicher scheint, das Ineinander von menschlichem Leben und den Elementen, das erinnert an Pascale Ferrans formidable „Lady Chatterley“-Verfilmung. Deren lässiger Naturalismus jedoch lässt sich im Animationsfilm nicht wiederholen. Hier drängt der Minimalismus ins Ikonische, das Simple ins überzeitlich Elementare, und die kleine Legende um die Schildkrötendame, die es vom einsamen Leben im Meer zum zweisamen Leben an Land drängt, wird so allzu groß.

Das soll nicht heißen, dass „Die rote Schildkröte“ nicht ganz schön ist. Besonders dann, wenn sich Tiere zu Gruppen formieren, wenn der Film seinen Blick von der Kleinfamilie in die Natur schweifen und auf dieser dann ruhen lässt. Dennoch bleibt eins vor allem: große Vorfreude auf den kommenden Miyazaki. Ekkehard Knörer

Die DVD ist ab rund 15 Euro im Handel erhältlich