nebensachen aus istanbul
: Klimatisierte Konservenbüchsen statt Fähren oder Mit Hightech-Seebussen über den Bosporus

Jede Weltstadt hat ihre Wahrzeichen. Was die Skyscraper-Silhouette für New York, ist der Eiffelturm für Paris, der Tower für London und die Hagia Sofia für Istanbul. Doch neben den Monumenten gibt es alltägliche Charakteristika, die die Metropolen auszeichnen. Was die roten Doppeldeckerbusse für London, sind die Fähren für Istanbul. Kaum ein Istanbul-Bild verzichtet auf die dahingleitenden Fähren mit einem Schwarm Möwen im Schlepptau und den Türmen des Sultanspalastes im Hintergrund. Nicht nur die steinernen Monumente, auch die Bewegungen sind bezeichnend für die Atmosphäre und den Lebensrhythmus einer Stadt.

Doch was in London wohl undenkbar wäre, soll nun in Istanbul passieren. Die derzeitige Stadtverwaltung unter der Führung der islamisch orientierten AKP will im Zuge der Modernisierung die Fähren durch Schnellkatamarane ersetzen. Dieses Vorhaben hat heftigen Protest ausgelöst. Eine regelrechte Bewegung zum Erhalt der Fähren entstand, die mit einer erfolgreichen öffentlichen Mobilisierung versucht, diese Demontage der Stadt und den „Angriff auf unser Lebensgefühl“, wie die Initiatoren eines offenen Briefes es nennen, zu verhindern.

„Die Fähren“ heißt es im Aufruf an die Stadtverwaltung, den bislang mehr als 20.000 Leute unterschrieben haben, „sind für uns mehr als nur ein Verkehrsmittel. Sobald wir sie betreten, schütteln wir die Müdigkeit des Alltags ab. Wir setzen uns zu Freunden und Bekannten, plaudern, füttern die Möwen und atmen die frische Seeluft ein. Die Fähren tragen uns nicht nur zu unserem Ziel, sondern sind bereits ein Teil davon“.

Stattdessen will die Stadtverwaltung nun rasende „klimatisierte Konservenbüchsen“ anschaffen, in denen man „statt auf die Sonne, nur noch auf den Nacken des vor einem sitzenden Passagiers schauen kann“.

Das Vorhaben ist ein bezeichnender Ausdruck für das Modernisierungsverständnis der Regierung von Tayyip Erdogan. Als der jetzige Premier vor zehn Jahren Oberbürgermeister von Istanbul war, schaffte er die ersten Schnellboote an. Die in Norwegen gebauten Beförderungsmittel ähneln innen einem Flugzeug. Während der Fahrt kann man sich nur in der geschlossenen Kabine aufhalten. Die Anschaffung dieser so genannten Seebusse zeigt nach Ansicht der Initiatoren der Kampagne nur das Unverständnis der regierenden AKP für die mediterrane Kultur und Geschichte Istanbuls.

Tatsächlich hat diese Auseinandersetzung nicht erst jetzt mit den Fähren begonnen. Erdogan und seine Anhänger sind zwar gläubige Muslime, vor allem aber sind sie Dörfler, die erst in der letzten Generation in die Großstädte einwanderten. Ihr Verständnis von Modernisierung ist rein technisch. Dabei kann es zu guten Lösungen kommen, wie dem Bau eines S-Bahn-Tunnels unter dem Bosporus, aber auch zu kulturellen und ästhetischen Katastrophen wie der geplanten Abschaffung der Fähren, stadtzerstörenden Autobahntrassen oder einem neu geplanten Geschäftsviertel, das den historischen Bahnhof Haydarpasa, einst Ausgangspunkt für die Bagdadbahn, mit riesigen Hochhäusern zustellen soll.

Aber die Istanbuler wehren sich. Nach langen Jahren des Niedergangs ist die Stadt jetzt wieder im Aufbruch. Dass dabei auch um die Seele der 2.500 Jahre alten Metropole gerungen wird, ist ein gutes Zeichen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH