: Grüne Stellen im Grau der Welt
Lyrik Wann immer ein Gedanke schön zu werden beginnt, bricht Jürgen Becker ab.Sein Journalgedicht „Graugänse über Toronto“ lenkt den Blick aufs Prosaische
von Eberhard Geisler
Das dichterische Brainstorming überwindet mühelos die Zeiten. Wie in den früheren Texten von Jürgen Becker drängen sich ihm auch heute noch Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf, als die Rote Armee einmarschierte und die Familie des künftigen Dichters aus Thüringen vertrieben wurde. Ebenso melden sich dem sich selbst überlassenen Bewusstsein Personen oder Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, etwa die Fernsehsendungen mit Werner Höfer oder der Boom der Nicki-Pullover. Schließlich findet die unmittelbare Gegenwart Erwähnung: die Zahl der Asylanträge steigt, eine Klimakonferenz findet statt, Hassgesänge stören weltweit den Frieden, die Kanzlerin befindet sich im Selbstgespräch, und Versöhnung ist nicht in Sicht.
Mit knapp fünfundachtzig Jahren hat der Georg-Büchner-Preisträger Jürgen Becker erneut einen Gedichtband vorgelegt: „Graugänse über Toronto“. Es handelt sich um ein einziges Langgedicht, in dem der Autor wie gewohnt Prosa und Lyrik zusammenführt und wie in einem Tagebuch Beobachtungen sammelt. Auch dieses Alterswerk ist frisch wie ehedem und überrascht durch seine Formulierungen.
Abermals reflektiert Becker die Frage nach den heutigen Möglichkeiten der Literatur. Er ist voller Skepsis dem Sinn des eigenen literarischen Tuns gegenüber und notiert in Abwandlung eines Hölderlin-Worts: „Was bleibet, stiftet der Wetterbericht“. Wenn ein Gedanke schön zu werden beginnt oder zu Illusionen Anlass zu geben scheint, bricht er sofort ab und lenkt den Blick wieder aufs Prosaische, weil nur von dort etwas zu erwarten und nur dieses dem Menschen erreichbar ist. Und wer die Gräuel des Krieges erlebt hat, ist eh stets von Verstummen bedroht.
Gleichzeitig feiert die Poesie ihre rätselhafte Kontinuität. Sie muss zwar durch Banalitäten schlingern – etwa vom Spargel im Sonderangebot oder dass die Werkstatt das Schiebedach nicht dicht bekommt –, aber es gibt immer noch Verwunderung über ein Büschel Gras und das Leuchten der Vogelbeeren. Der Lyriker hat es nicht aufgegeben, den Geräuschen der Welt zu lauschen. Er hört den Marder, der nachts auf dem Dachboden rappelt. Bleiben derlei Zeichen von Leben und Sinnhaftigkeit aus, konstatiert er beunruhigt deren Abwesenheit. Wenn der Zündschlüssel des Autos im Off steht, vernimmt er eine „totale Stille“ – er erlaubt sich das Fortbestehen einer gewissen Erwartungshaltung.
So viele Autoren, die zu ihrer Zeit Furore machten, sind mittlerweile längst vergessen! Aber doch ist die Erinnerung an Kollegen wie etwa Reinhard Lettau und Helmut Heißenbüttel noch wach. Dichtung ist aufgerufen, die Lage stets neu zu beurteilen; es gibt „kein Durchkommen mit alten Parolen“ mehr. Die Deutung der Vergangenheit ist nicht nach historistischem Muster ein für alle Mal festzulegen, sondern dem unabschließbaren Prozess der einander ablösenden Perspektiven unterworfen. Auch der Surrealismus mit seinen Leistungen kann noch einmal bedenkenswert sein: der Traum wird als paralleles Leben ernst genommen; er schreibt den Tagestext weiter. Es heißt: „Der Horizont ist klar und leer.“ Aber dahinter folgt sogleich: „So scheint es“. Die Fragen bleiben offen. „Das Unsichtbare / macht immer mit …“
Also doch ein vorsichtiger Optimismus: „Hör auf zu suchen, / es ist alles da“. „Du siehst, was / stehenbleibt im Zeitvergehen“. Das mentale Selbstporträt des Dichters bezeugt, dass er für das Glück des Staunens empfänglich geblieben ist.
Dieses Journalgedicht kommt unverdrossen und rege wie ein Klavierstück von György Ligeti daher. Es führt eine Kunst vor, die ganz einfach zu gehen scheint, wie es heißt, und jenes Einfache produziert, das laut Brecht so schwer zu machen ist.
Es kommt übrigens nicht von ungefähr, dass Becker ausgerechnet die Graugans in den Titel seines Buchs genommen hat. Er knüpft damit an Einsichten der Ästhetik an, die für die Moderne insgesamt maßgeblich sind. Hegel hat von der „Prosa der Welt“ gesprochen, um die bürgerliche Gesellschaft zu charakterisieren, die wenig mehr als ihre Geschäfte kannte und sich nun endgültig in Relativität verflochten fand – für das Denken eines Absoluten war da eben kein Raum mehr.
Friedrich Theodor Vischer, ebenfalls im 19. Jahrhundert theoretisierend, forderte von der Literatur zwar noch einmal, grüne Stellen im mittlerweile eingetretenen allgemeinen Grau aufzuweisen, aber jemand wie Wilhelm Raabe sollte bald in tiefer Melancholie feststellen, dass besagtes Grün unwiederbringlich verloren war. In seinen „Akten des Vogelsangs“ heißt es: „Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau.“ Auch Becker hat ja immer wieder die allmähliche Zubetonierung der mitteleuropäischen Landschaft registriert und Einspruch dagegen erhoben.
Die Graugans – Sinnbild dieser Lyrik – ist ein Zugvogel, der lange Strecken zurücklegt und sich nur von kurzem Gras ernähren kann, aber sehr rufaktiv ist. Sie ist ein unscheinbares Tier, das sein Wesen erst dem aufmerksamen Blick erschließt, aber von elegantem Flug und weiten Schwingen, die sie durch die Lüfte tragen.
Jürgen Becker: „Graugänse über Toronto“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 92 Seiten, 20 Euro
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