Kolonialgeschichte im Objekt

MUSEAL Mit einer neuen Vortrags- und Gesprächsreihe reflektiert das Überseemuseum die kolonialen Spuren in seiner Sammlung – und den Umgang mit den Ambivalenzen, die mit einer solchen Aufarbeitung einhergehen

Den kolonialen Blick rekonstruieren: Ein Besucher des Überseemuseums schaut, das Exponat schaut zurück. Die Begegnung birgt Erkenntnispotenzial Foto: Matthias Haase

von Benno Schirrmeister

Die Forschung des Überseemuseums zu den kolonialen Spuren in seinen Beständen weitet sich aus, verändert die Sicht auf die Sammlungsobjekte und beeinflusst das Ausstellungsprogramm des Hauses. Einerseits untersucht Provenienzforscherin Bettina von Briskorn seit Beginn des Monats für zwei Jahre die Herkunft der 1955 ins Haus gekommenen Sammlung des Lüderitz-Museums. Andererseits startet am 10. August eine Reihe von Vorträgen, Führungen und Museumsgesprächen zur Frage der kolonialen Verstrickungen des Sammelns, der Sammler und der Bildung von Märkten in den Herkunftsländern.

In der Reihe findet das große Entwicklungsziel seinen Niederschlag, ab 2019 eine eigene Abteilung zur Geschichte des Überseemuseums eröffnen zu können. Entsprechend weitet die Reihe den Blick von der strikten Provenienzforschung auf ihre politischen Folgen, die kulturellen Implikationen des kolonialen Blicks und ihre kuratorischen und künstlerischen Auswirkungen.

So gehört zur Übersee-Sammlung die Plastik „Looking for Grace“ der in London lebenden nigerianischen Bildhauerin Sokari Douglas Camp, die genau dieses Spannungsverhältnis reflektiert: Die Figur zeigt eine versilberte Frau in der vermeintlich traditionellen Tracht der Nama – mit markantem Kopfschmuck. Tatsächlich aber ist diese Mode laut Übersee-Direktorin Wiebke Ahrndt „Folge einer Zwangsbekleidung“. Douglas Camp greift also in ihrer Kunst einen Prozess der Transkulturation auf.

Umgekehrt hat das Überseemuseum einige der berühmten, einst auf einer „Strafexpedition“ geraubte Bronzen des Königshauses Benin in seiner Afrika-Sammlung. Die meisten Exemplare der Figurenserie befinden sich im British Museum, und sie waren entscheidend beteiligt an der Hinwendung nach Afrika, die von der bildenden Kunst des Westens Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen wurde: Sie haben die Vorstellung von Afrika und die Ahnung von der Geschichte des Kontinents in Europa verankert und geprägt.

In solchen Objekten hat sich Geschichte gleichsam kristallisiert, und an ihnen zeigt sich: Wie und wo sich koloniale Spuren in Schaustücken eingegraben haben, lässt sich nicht einfach beantworten, weil der historische Prozess selbst komplex ist. Dem wird nicht gerecht, wer die Beziehungen der leidvollen Begegnung zwischen Europäern und Menschen des Trikont als bloßes Machtverhältnis zwischen kolonisierendem Täter und kolonisiertem Opfer beschreibt, und vermutlich würde er nur die koloniale Gewalt allenfalls sublimiert reproduzieren.

Umgang mit „Human Remains“

Deshalb ist es sinnvoll, „den kolonialen Blick“ zu rekonstruieren, wie im Herbst der Hamburger Historiker Christian Jarling anhand von Fotos der Namibia-Sammlung versucht. Und deshalb ist es auch wichtig, darüber nachzudenken, wie mit den menschlichen Überresten, die Teil der Sammlung sind, umzugehen ist. Denn klar, der erste Impuls ist: Diese Knochenräubereien der Anthropologen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts waren obszön, sie hier zu behalten wäre Unrecht. Bloß: „Wenn wir von uns aus die Rückgabe anbieten, hat das etwas schrecklich Gönnerhaftes“, so Ahrndt. „Das kann als Affront verstanden werden.“

Über ihre Erfahrungen als Koordinatorin der Arbeitsgruppe zum Umgang mit den Human Remains im Deutschen Museumsbund wird Ahrndt im September berichten – und von den noch frischen Eindrücken einer bewegenden Zeremonie, in deren Rahmen im Mai die Gebeine von 26 Maori und Moriori an das Te Papa Museum Neuseeland übergeben worden waren. Nach Bremen gebracht hatte Übersee-Gründer Hugo Schauinsland die Leichen vor 120 Jahren. Jetzt erst können ihre Seelen, so sieht es die polynesische Tradition, zu ihren Ahnen heimkehren. „Es gibt aber auch Kulturen, die würden eine Rückgabe menschlicher Überreste ablehnen“, so Ahrndt.

Den Anfang der neuen Reihe unter dem Titel „Koloniale Spuren“ macht am 10. August Sara Capdeville mit einem Werkstattbericht aus ihrem Dissertationsvorhaben. Capdeville ist eine der drei DoktorandInnen aus Deutschland, Kamerun und Frankreich, die derzeit im Rahmen eines Kooperationsprojekts mit dem globalhistorischen Lehrstuhl der Uni Hamburg die Bedingungen des Erwerbs der Objekte aus der Afrika-Sammlung des Überseemuseums untersuchen, die in Zeiten der deutschen Kolonialherrschaft nach Deutschland kamen.

Sie widmet sich in erster Linie Stücken, die aus Tansania stammen, und ein Befund ist, dass die größtenteils erst ab 1930 Eingang in die Museumsbestände fanden – politisch bedingt: „In seiner Gründungszeit ist das Haus nicht durch ein besonderes Interesse an den Kolonien geprägt“, so Übersee-Direktorin Wiebke Ahrndt. Entsprechend klein waren die Bestände aus Ostafrika. Das aber wurde mit zunehmender Re-Kolonialisierungsbegeisterung zunehmend als Lücke empfunden.

Die Frage, wo sich koloniale Spuren in Schaustücken eingegraben haben, lässt sich nicht einfach beantworten

Und die war zu einer der herrschenden Strömungen in der Stadt geworden: Vor allem aus den Handelskontoren wuchs der Druck. Die Deutsche Kolonialgesellschaft hatte von Berlin ihren Sitz hierher verlegt, sie sorgte für die Errichtung des Backstein-Elefanten als Kolonial-Ehrenmal 1932, und im Streit darum, wer sich Stadt der Kolonien nennen dürfe, setzte sich wenig später Bremen gegen Hamburg durch. In diesem Sinne wollte man schließlich auch das Überseemuseum neu als Reichskolonialmuseum konzeptionieren.

„Wie sind die an die Sachen gekommen?“

Hier kommt es zu Schnittmengen mit dem Vorhaben von Bris­korns: Zwar ist das von der Stiftung Kulturgutverluste finanzierte Projekt der Historikerin zufolge „klassische NS-Provenienzforschung“, allerdings ging es Böttcherstraßen-Patron Ludwig Roselius mit seinem an der Ecke Martinistraße angesiedelten Lüderitz-Museum genau um die Illustration deutscher und bremischer Größe – und um die Verherrlichung des betrügerischen Kolonialpioniers, von dessen unseligen Wirken in den Augen heutiger Geschichtsschreibung eine gerade Linie zum Völkermord an den Herero und Nama führt.

Das Museum, im Krieg zerstört, wurde nicht wiederbelebt. Seine Sammlung, die der Kaffee-Hag-Mann in den 1930er-Jahren zusammengezogen hatte, wurde von der Böttcherstraßen GmbH dem Überseemuseum geschenkt. Wo sie noch weitgehend unerforscht geblieben ist: „Ihr völkerkundlicher Teil hat 770 Nummern“, so von Briskorn, bei den naturkundlichen Objekten ist selbst die Anzahl ungewiss. Erschwerend kommt hinzu, dass zwar bei vielen die Ethnografica-Händler bekannt, aber deren Archive bis heute nicht erschlossen sind. „Da trifft man immer auf die gleichen drei Hamburger Handelshäuser Umlauff, Konietzko und Godeffroy“, so Ahrndt. Die Frage sei jedoch: „Wie sind die an die Sachen gekommen?“ Dazu fehle es an einschlägiger Forschung.

Do., 10. 8., 15 Uhr, Gespräch mit Sara Capdeville: „Ein Nashorn, eine Askarifigur, ein Signalhorn – Spurensuche durch die Deutsch-Ostafrika-Sammlungen“