Wahlchaos ist den Börsen (fast) egal

DAX erholt sich nach kurzem Einbruch. Kein Wunder: Einfluss nationaler Entscheidungen auf Finanzmärkte schwindet

HAMBURG taz ■ An der Aktienbörse war die Bundestagswahl schnell abgehandelt: Der Leitindex DAX startete gestern Morgen mit einem spontanen Abschlag von mehr als 100 Punkten, also einem Minus von 2,1 Prozent gegenüber dem Freitagsschluss. Zeitweise notierte er bei 4.881 Punkten. Auch M- und Tecdax verloren in den ersten Minuten. Aber damit schien der politischen Situation denn auch Genüge getan. Im Verlauf des Vormittags holten die Indizes wieder auf, der DAX hielt sich bei Redaktionsschluss dieser Seite stabil bei gut über 4.900 Punkten.

„Wir werden die nächsten Tage ein bisschen Unsicherheit haben“, bestätigte Klaus Martini, Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank. An der generellen Aufwärtsbewegung werde sich aber nichts ändern – egal, wie die neue Regierung aussehe. Mehr Bewegung hatten die Experten übrigens gar nicht erwartet – auch nicht für den Fall eines klaren Wahlsiegs: In der Vergangenheit hatte es nach Bundestagswahlen zwar mehrmals große Sprünge gegeben: 1969, als Willy Brandt (SPD) Kanzler wurde, stiegen die Aktienkurse um 12 Prozent, 1983, nach der Wahl von Helmut Kohl (CDU), sogar um 40 Prozent, und auch Gerhard Schröder ließ den DAX 1998 um 18 Prozent nach oben springen. Aber: Als Grund für diesen Neu-Kanzler-Bonus galten immer ein moralischer Ruck sowie die Idee einer neuen treibenden Kraft.

Beides spielte dieses Mal keine Rolle, wenn man einer Studie der Dresdner Bank glauben darf: Zu viel Volkspartei mit Arbeitnehmerwurzeln würden sowohl unter der SPD wie unter der CDU den weiteren Abbau des Staates bremsen und einen schrankenlosen Wettbewerb verhindern.

Bedauern mögen das vor allem Spekulanten, die auf kurzfristige Gewinne setzen. Denn nachhaltig waren auch die früheren Kurssprünge nicht – oder sie entwickelten sich unabhängig von der Regierungsfrage weiter. Unter Brandt stagnierten die Aktienkurse bald wieder. Der Kanzlerernennung Kohls folgte zwar ein – kleiner – Aktienboom, aber es handelte sich um eine zufällige Parallele: Ausschlaggebend für die damalige Hausse war die rasche Internationalisierung der deutschen Wirtschaft, der neue Wohlstand von Unternehmen und Unternehmern, die Zinspolitik der Bundesbank sowie die Liberalisierung des Finanzplatzes. Nur für Letzteres konnte Kohl etwas.

Auch die rot-grüne Koalition stimulierte mit dem Abgang des Finanzmarktkritikers Oskar Lafontaine (heute Linkspartei) oder mit der Steuerbefreiung für Beteiligungsverkäufe von Banken die Aktienkurse zwar immer wieder. Aber für den eigentlichen Boom sorgte der gleichzeitige Aufschwung der New Economy.

Dass der jetzige Wahlausgang viele Börsianer kalt lässt, mag also verschiedene Gründe haben. Der entscheidende dürfte sein: Der Einfluss von nationalen Wahlen auf die Aktienmärkte – und damit die Fantasien der Anleger – wird immer geringer. Durch die Internationalisierung sind große Aktiengesellschaften immer weniger abhängig von den Entwicklungen in einzelnen Ländern – und von Bundestagswahlen. HERMANNUS PFEIFFER