Schröders Fortuneund Merkels Nemesis

Sollen die Christdemokraten ihre kommandierende Pfarrerstochter zum Teufel jagen, sich Schröder beugen?

VON KLAUS HARPPRECHT

Friedrich der Große, dieser aufgeklärte Menschenverächter, verlangte von seinen Generälen, sie müssten Fortune haben. Der Niedersachse Gerhard Schröder scheint freilich die friederizianische Pflicht zum Glück als eine bindende Maxime für die Kommandeure der Politik und der Parteien in Anspruch zu nehmen.

Es ist wohl wahr, dass er mit einem furiosen und zugleich virtuos geführten Wahlkampf in fast aussichtsloser Lage das düstere Geschick der SPD zu wenden vermochte. Fortuna bescherte dem Strategen in letzter Minute den „Professor aus Heidelberg“, den die unglückselige Marschallin Merkel in ihren Kompetenzstab beordert hatte – jenen Ex-Bundesverfassungsrichter mit seiner magischen Formel von den 25 Prozent. Mit einer bewundernswerten Geistesgegenwart erkannte der Feldherr Schröder seine Chance. Dem Fabelwesen Kirchhoff dankt er den Elan, der ihm drei Jahre zuvor durch die Elbflut und den Krieg im Irak beschert wurde. Die naive Theorie der Einheitsbesteuerung, von deren Verfasser sich Madame Merkel mit der ihr eigenen Mischung von Schlauheit und Unschuld ein Mirakel à la Ludwig Erhard versprach, wurde zu jenem Schock, den Schröder brauchte, um seine zögernden Krieger aufzuscheuchen.

Den so genannten kleinen Leuten redete er ein, die 25 Prozent seien der Strick, den ihnen die schwarze Marschallin um die Hälse schnüre. Es half nicht das Geringste, dass sie ein ums andere Mal schwor, die Egalitätssteuer – ein Gottesgeschenk für die so genannten Besserverdienenden – sei nichts anderes als eine ferne Vision, Kirchhof werde in Wahrheit um kein Jota von dem differenzierteren Programm der Union abweichen, wenn er denn Finanzminister würde.

Zu spät. Schröder bemächtigte sich – ob gerecht oder nicht – mit erbarmungsloser Entschlossenheit des Glücksfalles, den ihm die Gegnerin sozusagen in den Schoß geworfen hat. Sein hellwacher Instinkt sagte ihm, dass Dr. Kohls machtbewusstes „Mädchen“ mit diesem fatalen Griff in die vermeintliche Wunderkiste ihre eigene Niederlage besiegelte. Das hatte seine düstere Logik. Kirchhof war der Nasenstüber, den sie dem konkurrierenden Stoiber versetzen wollte. Mit dem natürlichen Misstrauen, das tief in der dürren und zugleich paradox gespaltenen Seele des bajuwarischen Chefbürokraten und Großdemagogen verankert ist, hatte der sich einer Berufung ins Schattenkabinett der Kanzlerkandidatin widersetzt. Friedrich Merz aber, den talentiertesten Finanzexperten der Union, hatte Merkel mit kaltem Kalkül als Fraktionschef vor die Tür gesetzt. Der Professor sollte alle beide ersetzen.

Nichts da: Nun rächte sich das Spiel mit der Macht, dessen Tricks sie bei Kanzler Kohl so gründlich studiert hatte – was der Meister selber am bittersten zu spüren bekam, nicht zu reden von dem Schurkenstreich, mit dem sie die Präsidentschaftsambitionen des tapferen Wolfgang Schäuble erledigte. Sie überließ es Guido Westerwelle als willfährigem Vollstrecker, den einstigen CDU-Vorsitzenden – Merkels zweites prominentes Opfer – mit einem Fußtritt samt Rollstuhl über die Rampe zu befördern.

Kirchhof wurde Merkels Nemesis. Schröder witterte es mit der genialischen Präsenz, die ihm in seinen besten Stunden geschenkt ist. Die eklatante Niederlage der CDU-Chefin ist ohne Zweifel sein Triumph: Denn kein anderer hätte es mit solch stählernen Nerven, mit solch unerschöpflichen Energien, mit solch couragiertem Kampfgeist und einer geradezu lodernd guten Laune vermocht, die Marschallin vom Kothurn der 45, der 43, der 41 Prozent, die ihr die Prognosen Woche für Woche zugebilligt hatten, schließlich auf die schmählichen 35 Prozent des 18. September herabzuzwingen.

Aber ist das Debakel der Widersacherin auch Schröders Sieg? Am Abend nach der Wahl knallte er – ein wenig zu robust, ja in einer Art Erschöpfungseuphorie – seine Karten allzu herrisch auf den Tisch. Er spielte, obwohl CDU und CSU der SPD ein paar Stellen hinter dem Komma und vermutlich drei Sitze im Parlament voraus bleiben werden, seinen Führungsanspruch unerbittlich aus. Verwechselte er nun plötzlich die Umfragen, die ihm als Kanzlerfavoriten einen klaren Vorsprung gaben, mit den Wahlresultaten, die zählen und sonst nichts? Sein Machtwille gründet sich auf ein populär-moralisches Votum, das allerdings im Grundgesetz nicht vorgesehen ist.

So bleibt es fürs Erste sein Geheimnis, wie er eine Mehrheit für den dritten Akt seiner Kanzlerschaft herbeizaubern will. Die Freien Demokraten wird er kaum auseinander dividieren können. Durch seinen Erfolg als Möllemanns Erbe hat der einstige Leichtmatrose Westerwelle Autorität gewonnen: Er ist nun Kapitän einer Luxusyacht von beträchtlicher Tonnage, mit dem liebenswürdig-soliden Gerhardt – der Deutschlands langweiligster Außenminister nach dem Parteifreund Kinkel hätte werden sollen – als Steuermann an seiner Seite (jedenfalls fürs Erste).

Nach menschlichem Ermessen wird es keine Ampel geben. Erst recht keine rot-rot-grüne Allianz. Lafontaine hat sich in den Jahren seiner intellektuellen Verlotterung zu viele Bild-Kolumnen geleistet. Und Bild färbt leider ab. Daher die Fehlleistung des „Fremdarbeiters“. Der Kaviar-Sozialist, der unterdessen in seiner Kellerbar womöglich „Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar …“ vor sich hin singt – er kann mit Schröder vermutlich niemals mehr koalieren: Das wären die berühmten zwei Skorpione in einer Flasche. Klaus Wowereit, der Weltgeist aus Tempelhof, mag für 2009 von einem links-linken Bündnis fantasieren, womöglich sich selber an die Spitze befördernd, womit die Bundesrepublik endlich auf Berliner Niveau gebracht würde.

Nein, auch das wird diesmal nicht die Lösung sein. Was also bleibt? Überläufer aus dem gelben oder gar dem SED-roten Lager sind kaum zu erwarten. Oder? Sollen die Christdemokraten ihre kommandierende Pfarrerstochter zum Teufel jagen, sich der Vox populi beugen, die einen Kanzler Schröder will, und vor dem Helden der Wahlschlacht 2005 ergeben in die Knie sinken? Oder will Gerhard Schröder durch sein hartes Pokern dem kernfesten Verlierer von Düsseldorf – Steinbrück ist zweifellos der Begabteste unter den Sozialdemokraten der mittleren Generation – eine starke, ja gleichberechtigte Position als Vizekanzler in einer großen Koalition sichern?

Und er selber? Er wird kaum, wie einst Heide Simonis, die verblüfften Genossen fragen: „Wo bleibe ich?“ Möchte er der großen Koalition als Sozialdemokratischer Fraktionschef Feuer unter den Hintern machen – à la Helmut Schmidt oder Herbert Wehner? Oder genügt es ihm, dass er den ersten Durchbruch zu den fälligen Reformen im verhockten und vergrämten Deutschland erzwungen – und zugleich seine Partei vor einer Katastrophe gerettet hat? Das wäre eine Leistung, die in den Geschichtsbüchern notiert werden könnte. Vielleicht ist sie ihm genug. Doch weiß der Teufel, ob er im Hannover’schen Vorgärtchen nicht ein Kaninchen gezüchtet hat, das er im rechten Augenblick an seinen langen Ohren aus dem Zylinder ziehen wird. Zuzutrauen ist ihm nahezu alles.