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Auftakt zur taz-Serie LieblingskiezMeine Kneipe. Meine Molle. Mein Kiez

Die Berliner Kieze sind nicht totzukriegen. Trotz Gentrifizierung und wachsender Stadt bieten sie auch Neuberlinern Orientierung.

Kiez: Straßenszene aus der Soldiner Straße im Ortsteil Gesundbrunnen, Bezirk Mitte Foto: Amelié Losier

Wir machen jetzt mal die Probe. Wo, liebe Leserin und lieber Leser, wohnen Sie? In Berlin, klar. Aber wo genau in Berlin?

Es gibt für Antworten auf solche Fragen keine Statistiken, aber ganz sicher wird der ein oder die andere nicht nur mit dem Stadtteil oder Bezirk antworten, in dem er oder sie wohnt. Viele mögen es kleiner, beschaulicher, übersichtlicher, mit einem Wort kieziger. Sie leben dann nicht in Pankow, sondern im Florakiez. Nicht im hinteren Kreuzberg, sondern im Wrangelkiez. Und natürlich leben sie auch in Wedding und Gesundbrunnen in Kiezen, im alternativen Sprengelkiez oder im rauen Soldiner Kiez.

Dass der Berliner gern im Kiez wohnt und aus selbem oft nicht rauskommt, weiß jeder, den es in die Hauptstadt zieht – auch wenn die vielzitierte Berliner Eckkneipe, die einmal zu den Kiezen gehörte, inzwischen meist Geschichte ist. Und es erleichtert ja auch die Orientierung. Wer neu in Berlin ist und in der Reuterstraße eine Bleibe gefunden hat, braucht sich erst mal nur in den paar Straßen um ihn herum zurechtzufinden. Die Großstadt mit ihren 3,6 Millionen Einwohnern kann ruhig ein wenig warten.

Aber ist das wirklich typisch berlinerisch? Hat nicht auch Köln seine Veedel (kölsche Wort für Stadtteil – Anm. d. Red.) und Leipzig seine ganz besonderen Stadtteile?

Alles da, was man braucht

Doch, ist es, und das hat mit der Berliner Geschichte zu tun. Erst 1920 wurde Berlin durch zahlreiche Eingemeindungen zu dem, was es heute ist. Folglich hat jeder noch so kleine Stadtteil seinen ehemaligen Dorfanger, seine Kirche, sein Rathaus, sein Zentrum, seine Geschichte. In Berlin ist es deshalb leichter, auf engstem Raum zu leben. Es ist alles da, was man braucht. In gewisser Weise ist der Kiez nicht anders als die Kleinstadt oder das Dorf, aus dem man nach Berlin gezogen ist, nur ein bisschen größer und anonymer.

taz-Serie Lieblingskiez

Der Kiez ist eine überschaubare Welt und macht den Großstadtmoloch erträglich. Hier kennt man sich aus – und auch unter­einander. Das stiftet Identität. Doch die Berliner Kieze sind einem starken Wandel unterworfen. Grund genug, in loser Folge auf verschiedene Kieze dieser Stadt zu schauen. Zum Auftakt: der Soldiner Kiez.

Das ist die schöne Seite der Erzählung, die uns die Kieze bereithalten. Aber auch ein Kiez verändert sich, und nicht selten geht dabei das verloren, was ihn erst dazu gemacht hat. Die Geschichte zum Beispiel, die viele der Neuhinzugezogenen gar nicht mehr interessiert. Oder die schrägen Typen, die irgendwann an den Stadtrand verdrängt werden, wenn Kieze, vor allem die begehrten, immer homogener werden.

Aber auch die entgegengesetzte Entwicklung ist möglich, wie das Beispiel des Soldiner Kiezes zeigt. Vor einigen Jahren noch als Problemviertel verschrien, bilden sich neue Nachbarschaften. In Gesundbrunnen oder Wedding geht also nichts verloren, stattdessen beginnt dort erst die Kiezwerdung.

Identitätsstiftend

Das identitätsstiftende Potenzial der Berliner Dörfer hat inzwischen auch die Immobi­lienbranche entdeckt. Wie ein Projekttutorium der Berliner Humboldt-Universität herausgefunden hat, würden vor allem Neuberlinern „zahlreiche wenig erschlossene Gebiete als ursprüngliche Kieze vorgestellt“. Mehr noch: „Zum Teil konnte sogar festgestellt werden, dass die Etablierung einiger Kieze erst auf die Bewerbung durch Immobilienfirmen zurückzuführen ist.“

Viele mögen es kleiner, beschaulicher, übersichtlicher, mit einem Wort kieziger

Ein weiteres Thema wäre sicher, inwieweit diejenigen, deren Radius ohnehin weit über Berlin hinausgeht, Kieze noch brauchen. Wer zum Beispiel in Adlershof arbeitet, unterwegs einkauft und sich mit der Flasche Wein auf die Dachterrasse setzt, braucht eigentlich keinen Kiez. Er ist dann nur noch Kulisse.

Aber auch der Wandel gehört zur Geschichte der Kieze. Einst waren sie als Fischer- oder Handwerkerviertel eng mit einer naheliegenden Burg verbunden. Davon zeugt heute nur noch die Kietzvorstadt in Köpenick.

Ach ja, und wenn wir die Probe machen und Sie sagen, Sie wohnen „auf dem Kiez“, dann kommen Sie aus Hamburg. Und kennen die Reeperbahn in- und auswendig.

Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin. Darin am Sonnabend: ein Rundgang durch den Soldiner Kiez. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk.

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