Türkei

Ahmet Şık soll sich vor Gericht verteidigen. Stattdessen greift der prominente Investigativjournalist das System Erdoğan frontal an

„Terroristen regieren dieses Land“

DOKUMENTATION Sieben Monate Gefängnis haben den Cumhuriyet-Mitarbeiter Ahmet Şık nicht gebrochen: Er weigert sich, sich zu den Vorwürfen gegen ihn – Propaganda für eine terroristische Organisation und die Beleidigung von Staatsorganen – zu äußern

Foto: ap

Ahmet Şık beginnt seine Verteidigung mit einem Zitat aus seinem Buch „Wir sind diese Wege zusammen gegangen“ von 2014, in dem er die langjährige Koalition zwischen der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) des heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen als „mafia­artige Regierung“ bezeichnet. Detailliert erörtert Şık die enge Beziehung der beiden Partner, die zum Ziel gehabt habe, die „Macht über den Staat“ zu erlangen. Dieses Ziel sei aber auch der Grund gewesen, warum sich Erdoğan und Gülen vor dem Putsch entzweit hätten.

Şık vergleicht diese Beziehung mit einer explodierenden Kanalisation: „Ja, es war eine Schweinerei und es ist immer noch eine Schweinerei. Dieser Krieg ist nicht einer, der für die Demokratie geführt wird oder den Frieden oder die Zivilisation. Es geht darum, sich den Staat anzueignen.“

Nach etwa 10 Minuten unterbricht der Richter Şıks Rede und mahnt ihn, auf die Punkte in der Anklageschrift einzugehen: „Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie eine Kolumne schreiben“. Şık antwortet: „Wenn Sie einfach warten, werden Sie sehen, dass das Teil der Verteidigung ist.“

Dann erläutert der Angeklagte, wie der von ihm beschriebene Krieg zwischen der AKP und den Gülenisten im Putschversuch vom 15. Juli 2016 kulminierte, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan als „Geschenk Gottes“ bezeichnet hatte: „Wir haben erlebt, was ‚Geschenk‘ bedeutet, und erleben es immer noch. Wir durchqueren die Dunkelheit und immer dunkler werdende Tage, in denen die, die der Wahrheit eine Stimme geben, und die, die sich weigern, den Befehl zu Verbrechen auszuführen, verstummen sollen. Der Putsch wurde verhindert, aber alle grundlegenden Rechte und Freiheiten wurden durch den Ausnahmezustand suspendiert.“

An dieser Stelle klingelt im Gerichtssaal ein Mobiltelefon. Ahmet Şık unterbricht seine Rede und sagt: „Wenn sie nach mir verlangen, sagen Sie ihnen, dass ich beschäftigt bin.“ Großes Gelächter. Şık fährt fort und erläutert, wie die Regierung den Putsch als Vorwand einsetzt, um Kritik zu verhindern: „Sie nutzen das Blut der von den Putschisten ermordeten Opfer. Sie nutzen es als demagogisches Mittel einer billigen Strategie.“

Noch einmal geht Şık auf das Verhältnis zwischen AKP und Gülenisten ein und behauptet, die Putschgeneräle seien von Erdoğans Partei auf ihre Positionen gesetzt worden. Er erinnert an die widersprüchlichen Berichte über den Geheimdienst, der von den Putschplänen gewusst habe. Und er erinnert an AKP-Offizielle, einschließlich des entlassenen Justizministers, die „dem ehrwürdigen Fethullah Gülen Hodjaefendi“ früher ihre Grüße übermittelt hätten.

Şık kommt auf Erdoğans Kommentar nach dem Putsch – „Wir wurden betrogen“ – zu sprechen. „Diejenigen, die der Kritik und den Warnungen nicht zugehört haben, bis auf sie gezielt wurde, diejenigen, die den Staat und all seine Institutionen der Gang übertragen und an deren Verbrechen teilgenommen haben, wollen uns jetzt glauben machen, dass sie einfach nur ‚betrogen‘ wurden. Nein, ihr wurdet nicht betrogen. Im Gegenteil: Ihr habt uns alle betrogen.“

Şık erinnert an seine Verhaftung wegen seines ersten Buches über die Gülen-Bewegung, das bis heute verboten ist: „Die Armee des Imams“ von 2011. Der damalige Premier Erdoğan sagte seinerzeit darüber, es sei „gefährlicher als eine Bombe“. „Hätte er mein Buch damals gelesen, würden wir heute nicht hier sein“, so Şık.

In seinem Schlusswort geht er auf die Anschuldigungen gegen ihn und die anderen Journalisten ein: „Die Geschichte wird einmal mehr auf unserer Seite sein. Es wird euch nicht gelingen, aus der Cumhuriyet oder uns Terroristen zu machen.“ Dann macht er unmissverständlich klar, was er von den Vorwürfen des Gerichts hält: „Ich verteidige mich hier nicht oder mache eine Aussage. Ich klage an. Diese Operation, die sich gegen uns richtet, ist nichts anderes als die Jagd auf Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit. Einige Mitglieder der Justiz haben die Aufgabe übernommen, der Lynchmob dieser Jagd zu sein. Die, die denken, dass dieses dreckige System, diese Verbrecherdynastie für immer bestehen wird, liegen falsch.

Das ist kein Statement zu meiner Verteidigung, weil ich das als eine Beleidigung des Journalismus und der ethischen Werte meines Berufes betrachten würde. Journalismus ist kein Verbrechen. Alles was ich sage, ist, dass ich gestern Journalist war, dass ich heute Journalist bin und dass ich auch morgen Journalist sein werde. Dafür, das ist offensichtlich, muss ein Preis gezahlt werden. Aber glauben Sie nicht, dass uns das einschüchtert. Weder ich noch die Journalisten, die draußen sind, haben Angst vor euch, wer auch immer ihr sein mögt. Denn wir wissen, dass das, was Tyrannen am meisten fürchten, Mut ist. Nieder mit der Tyrannei. Lang lebe die Freiheit.“

Der Applaus im Gerichtssaal ist so laut, dass der Richter brüllt: „Was ist jetzt los hier?“ Ruhe kehrt ein, der Richter beginnt seine Befragung. Seine erste Frage: „Geht es im Journalismus um unbegrenzte Freiheit?“ Şık antwortet: „Es gibt internationale Kriterien, die Freiheit begrenzen. Jedes Land definiert diese Grenze. Das Ethos besteht darin, ob ein Journalist über Fakten spricht oder nicht.“

1970 in Adana geboren, Reporter der Cumhuriyet und Autor mehrerer Bücher, die Ikonen des türkischen Investigativjournalismus sind. Wegen „Die Armee des Imams“, seiner Recherchen zur Gülen-Bewegung, saß er 2011 ein Jahr in Untersuchungshaft. Das komplette Protokoll seiner Rede vor Gericht in englischer Übersetzung im Liveblog auf www.ecpmf.eu

Es folgen weitere Fragen zu Tweets und Artikeln, wie Şık zur Zeitung kam und ob dort es Zensur gäbe. Der Richter: „Sie haben den Staat einen ‚Mörderstaat‘ genannt …“ Şık antwortet: „Ich habe untertrieben: Der Staat ist ein Serienmörder.“

Auf eine Frage zu Terrorverbindungen antwortet Şık: „Sie nennen das hier einen Terrorismusfall. Aber alles, was Sie in den letzten drei Tagen getan haben, ist, Fragen zu meiner journalistischen Arbeit zu stellen. Die Terrororganisation, nach der Sie suchen, ist als politische Partei verkleidet und regiert dieses Land.“ Der Richter ordnet eine Pause an. Die Anhörung von Ahmet Şık ist beendet.

Die Rede, die Şık am vergangenen Mittwoch hielt, haben Doris Akrap und Ali Çelikkan basierend auf Protokollen der im Gerichtssaal anwesenden Cumhuriyet-Reporterin Canan Coşkun und der Solidaritätsgruppe für die Freiheit von Ahmet Şık übersetzt und zusammengefasst.