MUT Eine Radiostation von Frauen für Frauen – ein lebensgefährliches Unterfangen in Afghanistan. Die Journalistin Shallah Shaiq konnte sich jetzt drei Monate in Berlin erholen
: „Es herrschte Dunkelheit und Unglück“

Shallah Shaiq nutzt ihre Zeit in Deutschland intensiv, um sich weiterzubilden und ihr Netzwerk auszubauen Foto: Barbara Dietl

Interview ANDREAS LORENZ

taz: Frau Shaiq, Ihre Radiostation heißt Nargis. Was bedeutet das?

Shallah Shaiq: Nargis ist der Name einer schönen weißen Blume. Deshalb heißen auch viele afghanische Frauen Nargis.

Nargis ist ein Sender von Frauen für Frauen. Wie kamen Sie auf die Idee, ihn zu gründen?

Ich habe bei dem privaten Sender Sharq gearbeitet, der meinem Mann gehört. Dort leitete ich ein Frauenprogramm. Nachdem die Taliban die Macht verloren hatten, wurde es einmal die Woche ausgestrahlt. Ich merkte schnell, dass man in wöchentlich einer Stunde nicht alle Probleme der afghanischen Frauen ansprechen kann.

Gab es denn damals überhaupt genügend Journalistinnen?

Nein. Damals, 2007, fingen wir mit einem zwölfjährigen Mädchen und meiner Tochter an. Die war damals acht Jahre alt.

Das klingt sehr nach Kinderarbeit …

Wir haben die Mädchen ausgebildet und sie haben nicht lange gearbeitet. Danach begannen wir damit, systematisch junge Frauen zu Journalistinnen auszubilden. Sie waren zwischen 18 und 20 Jahre alt. Das machen wir bis heute. Inzwischen arbeiten in Afghanistan viele Journalistinnen.

Warum hielten Sie es für notwendig, Programme nur für Frauen auszustrahlen?

In den Zeiten der Taliban existierte Afghanistan nicht mehr. Es herrschte nur Dunkelheit und Unglück. Besonders Frauen waren Opfer dieser Situation, vor allem in Dschalalabad, wo ich herkomme. Ich selbst war ein Opfer: Ich musste die Schule verlassen, durfte nicht aus dem Haus. Ich war ungefähr 20 Jahre alt, aber schon psychisch angeschlagen. Ich war damals schon verheiratet worden und hatte vier Kinder.

Warum durften Sie Ihr Haus nicht verlassen?

Das ging nur mit einer Burka, und auch das war gefährlich. Die Taliban haben willkürlich Frauen umgebracht, wenn sie allein unterwegs waren. Zum Glück haben mich mein Mann und meine Brüder stets bei meinen Projekten unterstützt.

Über welche Probleme berichten Ihnen die Frauen?

Ihr Leben ist ja völlig zerstört worden, sie kennen ihre Rechte nicht. In einigen Familien dürfen die Frauen auch heute nicht ohne Erlaubnis der Männer sprechen, sie dürfen nicht entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen. Kommt es zu tödlichen Streitigkeiten zwischen Clans, entscheidet der Ältestenrat schon mal, dass eine Familie ein junges Mädchen als Trostgabe an die andere Familie ausliefern muss. Dort werden sie nicht selten geschlagen, sie müssen hart arbeiten, sie sind völlig rechtlos.

Wie funktionieren Ihre Sendungen? Rufen die Mädchen und Frauen an und berichten, dass sie nicht zur Schule dürfen oder von den Männern geschlagen werden?

Ja. Am Anfang war das unsäglich schwer, denn die Männer kamen und stritten sich mit meinem Mann herum. Nach ihrer Ansicht verstößt es gegen den Islam, wenn Frauen in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen. Wir haben mit harmlosen Themen angefangen: Kindererziehung, Hausarbeit etc.

Bitten die Frauen Sie um Hilfe?

Ja. Allerdings gehen wir damit nicht mehr auf Sendung. Wir haben inzwischen eine Hotline eingerichtet. Das geht über die journalistische Arbeit hinaus. Nicht selten holen wir Frauen aus ihren Häusern und bringen sie zu Frauenrechtsgruppen. Inzwischen kennen viel mehr ihre Rechte und wissen, an wen sie sich wenden können.

In Dschalalabad und Umgebung sind Taliban und IS-Kämpfer stark. Wie kommen Sie damit klar?

Dschalalabad liegt in der Nähe der pakistanischen Grenze, die Stadt ist inzwischen Zentrale der Taliban und des IS. Allerdings kann man diese Männer im Stadtbild nicht erkennen. Unser Sender ist viermal angegriffen worden, einmal warfen sie eine Handgranate, zweimal schossen sie mit Raketen und 2015 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft. Ein junger Mann verlor beide Beine, der Täter starb, unsere gesamte Technik wurde zerstört. Ich gehe nur noch in einer Burka und mit einem Leibwächter auf die Straße.

Shallah Shaiq

wurde im Jahr 1977 in Dschalalabad im Osten Afghanistans geboren. Sie ging in Kabul zur Schule und studierte später Politische Wissenschaften. Sie wurde mit 16 Jahren verheiratet, ihr Mann ist ebenfalls Journalist. Sie hat eine Tochter und drei Söhne.

Sie erhielten Drohbriefe … ?

Ja, eines Tages erklärte die Regierung meinem Mann, dass sie mich nicht beschützen könne. Seit einem Jahr sitze ich deshalb nicht mehr am Mikrofon. Aber nach meiner Rückkehr nach Afghanistan werde ich wieder anfangen.

Warum haben Sie sich für das Auszeit-Programm von taz und Reporter ohne Grenzen beworben?

Ich wollte ein wenig entspannen und gleichzeitig etwas lernen: Ich besuchte einen ­Englischkurs. Zudem bekam ich Gelegenheit, mit einer Psychologin zu sprechen. Das Schicksal dieser Frauen und die Lage in Afghanistan nimmt ­einen doch sehr mit. Ich fühle mich inzwischen viel besser. Zum ersten Mal in meinem Leben genieße ich ein friedliches Dasein ohne Bedrohung.

Sie sind zum ersten Mal in Berlin. Wie haben die Berliner auf Ihr Kopftuch reagiert?

Ich dachte zunächst, die Menschen hier hassen alle Ausländer. Aber nach zwei Monaten stelle ich fest: Die Leute sind freundlich, nur einige ältere Damen waren mir gegenüber unhöflich.

Die Bundesregierung schickt afghanische Flüchtlinge zurück, wenn sie kein Asyl erhalten haben. Was halten Sie davon? Ist Afghanistan sicher?

Nein, Afghanistan ist nicht sicher, besonders nicht in diesem und im vorigen Jahr. Meine eigenen Kinder können nicht auf die Straße gehen, weil es zu gefährlich ist. Man sollte auch bedenken: Die Afghanen kehren als Verlierer zurück. Ihre Familien haben viel Geld ausgegeben, damit sie nach Deutschland kommen, und nun sind sie wieder da – mit nichts in der Tasche.

Andreas Lorenz hat viele Jahre für den Spiegel und zahlreiche Tageszeitungen als Auslandskorrespondent berichtet. Seit 2011 engagiert er sich bei der taz Panter Stiftung als Kuratoriumsmitglied für die Ausbildung von JournalistInnen