Den Bonus ausleben

Anderssein Das Schwule Museum* sucht in seiner Ausstellung „Odarodle“ nach einer postkolonial inspirierten Kritik am klassischen Verständnis der schwulen Dinge der (weißen) Welt

Alles fließt, auch im Blick auf die Geschichte. Motiv aus „Odarodle“ Foto: Michael Oswell

von Jan Feddersen

Das Schwule Museum* trägt seit einigen Jahren am Ende seines Namens ein Sternchen. Das ist keine zeichenhafte Grille, sondern ein Symbol für den Anspruch, als Haus über den schwulen Bereich hinaus zuständig zu sein. Das * ist sozusagen ein programmatischer Auftrag, es mit dem Queeren – der legendäre Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hätte von „sexuellen Zwischenstufen“ (der heterosexuellen Norm) gesprochen –, ernst zu meinen. Und ein Resultat dieser Beschäftigung ist von heute an in den hinteren Räumen an der Lützowstraße zu sehen.

Die Ausstellung heißt „Odarodle“, und was wie eine afrikanisch stimmende Geheimformel klingt, ist doch nur, not very tricky, das von hinten buchstabierte Worte für den Namen eines berühmten queeren Lokals im Berlin der Weimarer Repu­blik: „Eldorado“. Ein Haus der Travestie, der geschlechterunordnenden Grenzüberschreitung, der verborgenen Geheimnisse des Begehrens und der (be)rauschenden Geselligkeit.

„Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850–1950. Geschichte, Alltag und Kultur“ hieß 1984 eine im Westberliner Berlin Museum zu sehende Ausstellung. Sie war schon deshalb bedeutend, weil bis dahin noch kein städtisches Museum in Deutschland eine solch selbstbewusste Schau von Schwulen und Lesben gezeigt hatte. Sie wurde ein Publikumserfolg, allein schon der Neugierden wegen: Wie sehen sich Homos, männlich wie weiblich, selbst, wie präsentieren sie sich geschichtlich und kulturell?

Zeit der Stigmatisierung

Inzwischen sind, im historischen Vergleich mit der Zeit vor 33 Jahren, queere Gewinne erzielt worden, zuletzt durch die bürgerrechtliche Etablierung der „Ehe für alle“, die eben mehr ist, als nur die Homoehe, worüber Heterosexuelle noch lange zu grübeln haben werden. Damals steckte die schwule Community in politischen Kämpfen gegen die Stigmatisierung wegen Aids, damals war von Gleichberechtigung noch nicht auszugehen.

Zeit also, den Blick zu weiten – und das, was das Schwule Museum* hier mit Hilfe von Bundeskulturstiftungsgeldern anstrengt, ist des Lobes wert. Kurator Ashkan Sepahvand, in Iran geboren, in den USA aufgewachsen, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Sein Ziel ist, wie er sagt, postkolonialer Art. Die „Eldorado“-Geschichte vor 33 Jahren sei wichtig gewesen, aber der zeitgenössische Blick müsse ein anderer, ein erweiterter sein. So hat er in den Archiven des Schwumu* Fundstücke ausgegraben, die die hauseigene Geschichte thematisieren – die Fokussierung auf das Schwule, auf die Historie und die Bestände weißer homosexueller Männer, die noch keinen Sinn hatten für die Kolonisierung ihrer selbst. Und zwar, wie Sepahvand sagt, im Hinblick auf ihre „kapitalistische, koloniale, heteronormative Struktur“.

Passion Aufklärung

Unreflektiert bleibt dabei, möchte man anmerken, dass eben dieses Kapitalistische erst alle Freiheitsgewinne für queere Menschen gebracht hat, rechtlich und performativ – und zwar durchaus global gesehen. Gleichwohl hat „Odarodle“ eine tüchtige Menge an neuen Ideen zu bieten: Das Schwumu* will ja längst mehr sein, ein queerfeministisches Haus der politisch-gesellschaftliche Transzendenzmöglichkeit. Anders gesagt: Indem Sepahvand – etwa in seinem eigenen künstlerischen Beitrag – den Willen zum Exotismus, zur Darstellung von Menschen freakhafter Form durch die sammlerischen, aufklärungswütigen Passionen Hirschfelds darstellt, wird auf Anhieb ersichtlich, dass die queere, nichtheteronormative Welt selbstverständlich mehr ist als eine weiße und männliche.

Indem, so die These generell, die bürgerliche Wissenschaft, von Humboldt bis eben Hirschfeld, das Andersartige erkannt, erfasst, sortiert und katalogiesiert hat, wird das Andere anders gehalten und bleibt dem sogenannten Normalen verwehrt. Am beeindruckendsten ist vielleicht die Anekdote, die durch den brasilianischen Aktivisten Luiz Mott überliefert wird und durch den Künstler Lucas Odahara für diese Ausstellung verarbeitet wurde: der 1614 verübte Mord an dem „ersten indigenen schwulen Märtyrer“ Brasiliens – weil er schwul war (mit welchem Wort sein gleichgeschlechtliches Begehren auch immer geahndet wurde). Spürbar wird das schon immer gewusste, ob klardenkend oder ahnend, Wissen von Schwulen und Lesben in allen Zeiten, dass das Leben jenseits heteronormativer Gesellschaftlichkeit tödlich bedroht sein kann.

16 Arbeiten, in denen die Pro­du­zent*innen – die meisten leben in Berlin – auf Fundstücke aus dem Archiv reagieren, sind in der Schau zu bestaunen. Ashkan Sepahvand tut gar nicht erst so, als könne man sich die Deutungsangebote in größter Kürze erschließen, es brauche Zeit, es ist nicht ohne Zutun zu haben, was an Erkenntnis zu gewinnen sein kann. Doch es lohnt sich, im neu collagierten Angebot, die Geschichte zu verfolgen.

In der künstlerisch-forschungsbasierten Schau „Odarodle – Sittengeschichte eines Natur­mysteriums, 1535–2017“ nimmt man erstmals Archivbestände und die Geschichte des Schwulen Museums* in den Blick. Begleitet wird die Ausstellung von einem Programm mit Performances, Interventionen, Ritualen, Filmen, Diskussionsrunden sowie einem Symposium im September.

Zu sehen ist „Odarodle“ bis zum 16. Oktober im Schwulen Museum*, Lützowstraße 73. Dienstags geschlossen. Info unter www.schwulesmuseum.de.

Biografische Zutat

Zugleich ist „Odarodle“ anzumerken, dass das Schwumu* hauptsächlich Fundstücke aus dem schwulen Bereich zu bieten hat – und Sammlungen, die in anderen Archiven, etwa dem Spinnboden Lesbenarchiv, der Magnus Hirschfeld Gesellschaft oder dem Fundus von Trans*menschen, dem in Neukölln ansässigen Lili Elbe Archiv nicht weiter kontaktiert hat. Hier hätte man sich synergetische Mühen gewünscht.

Im Laufe der nächsten Wochen werden Vorträge und Mitte September eine Tagung diese Ausstellung begleiten, ja, deuten helfen – der Diskurs muss in jeder Hinsicht begrüßt werden, denn die Horizonte, die jetzt in den Blick zu nehmen sind, scheinen noch ein wenig im Nebel zu liegen. Denn: Ist Anderssein in unserer liberalisierten Gesellschaft nicht gerade ein Plus, eine biografische Zutat von größter Profilschärfe? Und ist dieses Freakige zu würdigen nicht auch ein Verdienst Hirschfelds gewesen? Schließlich: Wer anders als die anderen Menschenkinder aussieht und auszusehen beansprucht – will der*die nicht gerade, den Bonus des Anderen ausleben, und zwar gefahrlos?

Anders gesagt: Ist „Odarodla“ eventuell genau die Ausstellung zur perfekten Zeit – da die Feier des Individualismus vorbei ist, weil sie alle ermüdet? Absolut lohnenswert, alles. Besonders jedoch: das achtminütige Filmporträt über Ashkan Sepahvand, gefertigt in den Kellern des Schwu­mu*, gedreht von Vika Kirchenbauer. Hübsche Performance: charmant und gar nicht freakig.

Zu erörtern wäre freilich, ob die neue große Erzählung von der postkolonialen Kritik überhaupt für Queeres taugt. Oder nicht eher, gedanklicher Bequemlichkeit und aus ihr vorausgehender Wünsche um Stellen und Fördertöpfe wegen, in die abergläubisch gesinnte Irre führt. Denn glaubt ernsthaft irgendein Queer*mensch, es habe dereinst einen vorkolonialen Zustand gegeben – pure Natur? Wenn doch: Das hieße, die Natur zu bemühen. Das Allerschlimmste!