Wohnzimmer auf Zeit

Gastronomie Im Wedding hat mit dem Be’kech Berlins erstes Anti-Café eröffnet. Das Prinzip: Der Gast bezahlt nicht für das Essen und die Getränke, die er verzehrt, sondern nur für die Zeit, die er im Café verbringt

Die Gründerinnen des Be’kech, Nina Martin (l.) und Louna Sbou (r.) Foto: David Oliveira

von Susanne Messmer

Karl Kraus tat es, Egon Erwin Kisch tat es, Erich Kästner tat es. Vor über 100 Jahren gehörte es unter Dichtern und Denkern zum guten Ton, im Kaffeehaus seine Bücher zu schreiben – und irgendwie schien sich damals keiner darum zu scheren, dass sich fast in jeder Großstadt Europas brotlose Künstler im Café trafen, oft Stunden an einer „billigen Schale Kaffee“ festhielten, wie Stefan Zweig es beschrieb, dort „saßen, diskutierten, schrieben, Karten spielten“ und „eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumierten“.

Doch diese Zeiten sind schon lang vorbei, sagen die Besitzerinnen des Cafés Be’kech in der Weddinger Exerzierstraße, Nina Martin und Louna Sbou. Der Name Be’kech ist eine Zusammensetzung der Städte Berlin und Marrakech – Martin ist in Berlin geboren. Sbous Eltern stammen aus Marrakech in Marokko.

Die beiden Frauen haben in der ganzen Welt seit Jahren mit ihren Laptops im Café gearbeitet. Und irgendwann stellten sie fest, dass sie sich das eigentlich gar nicht leisten können. Einfach zu oft kam eine Kellnerin oder ein Kellner vorbei, riss ihnen die leere Tasse Kaffee weg und fragte im 20-Minuten-Takt, ob man denn noch zufrieden sei.

Also setzten sich Louna Sbou und Nina Martin hin und recherchierten. Sie fanden eine Handvoll Cafés in aller Welt, die ein anderes Konzept verfolgten. Anti-Cafés hießen diese, und sie gehören zu einer weltweiten Bewegung junger Leute, die im Café nicht nur Geld ausgeben wollen, sondern ein öffentliches Wohnzimmer suchen, indem sie sich inspirierter fühlen als zu Hause am Küchentisch. Das erste eröffnete 2010 in Moskau, es folgten Anti-Cafés in Frankreich, England, Indien. Das Prinzip: Der Gast bezahlt nicht für das Essen und die Getränke, die er verzehrt, sondern für die Zeit, die er im Café verbringt.

Im Be’kech bedeutet das: Man bekommt 5 Cent pro Minute, 3 Euro pro Stunde, maximal 15 Euro am Tag. Und während den Gästen in den ersten Anti-Cafés die Startzeit auf einem kaputten Wecker angezeigt wurde, bekommt man im Be’kech einen dezenten Zettel in eine Zier-Tajine gelegt.

Seit gut drei Wochen gibt es nun das Be’kech in der Exerzierstraße, ereignisreiche Tage, wie Louna Sbou und Nina Martin berichten. Besonders am Wochenende war der Ansturm auf das Café so enorm, dass sie noch immer nicht wissen, wie sie dessen in Zukunft Herr werden wollen.

Auch an einem sonnigen Nachmittag unter der Woche ist das Be’kech mehr als belebt. Nur noch einer der kleinen Tische am altrosa Sofa mit den Fransen ist noch frei. Auf allen anderen Stühlen, Hockern, Bänken und Sofas aus den unterschiedlichsten Epochen und in den unterschiedlichsten Macharten sitzen junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren an ihren Laptops, unterhalten sich auf Englisch, Deutsch, Spanisch oder Arabisch, arbeiten, tippen.

Ab und zu fragt jemand nach dem kostenlosen WLAN, lässt sich von der Aushilfe hinterm Tresen einen kostenlosen Cappuccino kochen oder holt sich was vom Buffet, wo es zu dieser späten Stunde anders als gegen Mittag nicht mehr viel gibt, aber immerhin noch Kekse, Brot und Knäcke, Aufstriche von Bio bis Nutella, Gurken, Tomaten, Bohnensalat.

In den „private cabins“ im Souterrain, die vor allem fürs Skypen gedacht sind, sitzt gerade niemand. Dafür ist der Konferenzraum daneben, den man neuerdings vorab reservieren muss, gerade belegt.

Gäste zahlen hier 5 Cent pro Minute, 3 Euro pro Stunde, maximal 15 Euro am Tag. Die Startzeit wird auf einem Zettel notiert und in eine Zier-Tajine gelegt

„Unser Kalkül ist voll aufgegangen“, sagt Nina Martin, wenn man sie nach ihrer Klientel befragt. Was hätten sie gemacht, wenn vor allem jene Nachbarn gekommen wären, Leute, die sich eher zwischen Tele-Café, Späti und Dönerbude bewegen, um sich beispielsweise gegen Mittag binnen 15 Minuten den Bauch voll zu schlagen? „Das würden wir auch noch wegstecken“, sagt Martin und weist auf die Ufer-Hallen und aufs Ex-Rotaprint um die Ecke hin. In Wedding wohnen in Zeiten steigender Mieten viele Studierende und Freiberufler. „Die meisten richten sich hier ein, bleiben mindestens zwei oder drei Stunden“, fügt sie an, unterbricht kurz das Gespräch, um einem Gast beim Internet zu helfen und einem anderen Gast zu antworten, der einen syrischen Mann auf Arbeitssuche kennt, der sich fürs Be’kech interessiert.

Nina Martin und Louna Sbou sind nicht nur Idealistinnen. Sie wissen sehr genau, was sie tun, sie haben vielleicht sogar eine Marktlücke entdeckt. Nina Martin, 28 Jahre alt, ist in Berlin aufgewachsen, hat in Südafrika, in England, Finnland und im Libanon Film studiert und gearbeitet. Zuletzt gründete sie eine Flüchtlingsinitiative und einen Verein, in dem Flüchtlinge und Alteingesessene mit einer eigenen Zeitwährung ihre Fähigkeiten tauschen können. Sie hat schon einige Anfragen von Unternehmen bekommen, die ihren Mitarbeitern mehr Home-Office ermöglichen wollen und mit dem Be’kech kooperieren wollen.

Louna Sbou, 30 Jahre alt, ist im Süddeutschen aufgewachsen, ihre Eltern kamen aus Marokko. Sie hat Businessmanagement studiert und in aller Welt Events organisiert. Im Augenblick denkt sie über die Abendveranstaltungen nach, die im Be’kech kommen werden: Lesungen, Talks, Konzerte von Musikerinnen aus dem arabischen Raum, die sie schon lange kennt. Schon Ende Juli soll es losgehen damit.

Bei dem Riecher, den die zwei Frauen bislang hatten, kann man davon ausgehen: Vielleicht wird es in Berlin bald eher zum guten Ton gehören, in einem Anti-Café zu arbeiten, als in einem herkömmlichen Café.