: Die Eselsohren der Nachgeschichte
Küssen in Wien Jan Fabre liegt in „I am a Mistake“ beim Wiener Tanzfestival Impulstanz in Treppenhäusern herum und die Ausstellung „Stigmata“ von Germano Celant dokumentiert seine Solo-Performances
von Uwe Mattheiß
An diesem Abend ist in der Eingangsebene des Wiener Leopold-Museums kaum eine Stehplatzfläche mehr frei. Die Blicke schweifen, Bussi links, Bussi rechts, „Schön, dich zu sehen!“. Ganz Kulturwien ist versammelt einschließlich amtierender und ehemaliger Kunstminister, dazwischen ein paar Kurzbehoste, die gerade eben noch von den magentafarbenen Leihfahrrädern des Impulstanzfestivals gesprungen sind.
Aber nirgendwo ein Bild an der Wand, eine Skulptur im Raum, ein Mikrofonaufbau oder sonst eine Sinnstiftung ermöglichende Apparatur. Die Kameras blinken im Standby-Modus. Im Gemurmel recken sich die Hälse, wann’s jetzt endlich was zu sehen gibt.
Dabei ist dieser mittelgroße Mann Ende fünfzig, mit schwarzer Hornbrille, streng zurückgekämmtem blondem Haar, schon eine Weile im Raum. Sein Abendanzug, die schwarzen Lackschuhe und die penibel gebundene Krawatte liegen ein wenig über dem Dresscode für den Besuch von Sommerfestivals mit gegenwärtigen Kunstinhalten. Er presst die Nase an die weiße Kalksteinwand, geht mit regelmäßigen kleinen Schritten seitwärts, als sei seine Fortbewegung in einem unsichtbaren Netzwerk hinter den Steinplatten gesteuert. Auffällig sind nur die grau-weißen Plüschohren, die er aufgesetzt hat. Als er „Iha“ zu schreien beginnt und „I am a mistake“ mit den verschiedensten Begründungen, drehen sich die Köpfe und mit ihnen die Kameraobjektive.
Es ist Jan Fabre, der hier am bevorzugten Präsentationsort für die Werke von Klimt und Schiele der Wiener Moderne Eselsohren macht. Seine Performance „I am a Mistake“ ist zunächst die radikale Bild- und Blickverweigerung. Fabre zelebriert konsequent mit dem Rücken zur Gemeinde wie ein katholischer Priester vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Nicht die Aufmerksamkeit der Betrachtenden ist hier knappes Gut, sondern die Momente, die Teilhabe suggerieren an einer Performance, von der alle wissen, dass sie nicht wiederholt wird. Im Zeitalter des kulturpolitischen Kapazitätsauslastungsfetischismus wird es zum Akt von Souveränität, gelegentlich „die Bude leer zu spielen“.
Mit der Geometrie der Blicke lässt sich jedenfalls leicht umgehen, aber nur im „falschen“ Gebrauch wird sie auch sichtbar. Fabre arbeitet sich vor zum Treppenhaus, das Publikum trottet hinterher und kehrt um: „I am a mistake“ – weil ich den falschen Weg genommen habe. Schließlich kniet er vor einer Ecke des Raumes und zelebriert in den leeren Winkel. Folgt dem letzten Bild die letzte Performance? Das Schwarze Quadrat positionierte Malewitsch in Ausstellungen immer ziemlich genau schräg gegenüber, dort wo in der orthodoxen Tradition die Ikone hängt.
Doch vor dem letzten Bild kommt erst noch Klimts Kuss, der freilich an einem anderen Ort hängt, und die blattvergoldete Bilderwut aus dem sexbesessenen Fin de Siècle Wiens. „I am a mistake because I like to kiss Austrian women“. Das reflektiert – man erhofft inständig ein Augenzwinkern – die exotische Spekulation von Touristen, Besatzungssoldaten und kolonialen Eroberern über die erotischen Finessen der einheimischen „Frauleins“.
Ein Stockwerk tiefer in einer ziemlich biederen Ausstellung über Frauenbilder im Biedermeier trifft Fabre dann seine vermeintlich zufällige, aber schon längst ersichtliche junge Komplizin in Salzburger Tracht und adrett zu einer Art von alpinen Cornrows geflochtenem blonden Haar. Mit Judith Radlegger, der Kuratorin einer renommierten örtlichen Galerie, liefert er sich für den Rest des Abends stehend wie über den Boden rollend eine Kuss-Performance.
Ihr Schnäbeln und Schlängeln weiß sich noch lange eingebettet in die wohlwollende Ironie der BetrachterInnen. Darin liegt keineswegs das Scheitern einer anachronistischen Provokation, vielmehr die luzide Beweisführung über nichts weniger als das Ende einer Kunstepoche. Der Einbruch der (vermeintlichen) Wirklichkeit in die Zeichensysteme von Kunst und Theater hat seine disruptive Kraft eingebüßt. Auch wenn er noch viele Performances auf dem Plan hat, spielt Fabre diese Miniatur als eine letzte Performance.
Was an diesem Abend unwiederbringlich endet, zeigt zwei Stockwerke tiefer die Ausstellung „Stigmata“ von Germano Celant über mehr als vier Jahrzehnte Solo-Performances von Jan Fabre. Motive der aktuellen Performance finden sich in den frühsten Arbeiten wieder.
1978 fährt ein hagerer zorniger Mann von 20 Jahren bis zur Erschöpfung mit der Nase nachts die Straßenbahnschienen entlang, küsst im biederen heimatlichen Antwerpen Gehsteige, Mauern und Straßenlaternen, bis ihn die fürsorgliche-ratlose Staatsmacht in die Psychiatrieambulanz zur Beobachtung einliefert. Kunst musste wehtun, die Attacken mit und gegen den eigenen Körper sollen verhüten, den schönen Schein der Kunst für ihre Sache selbst zu halten.
Der junge Fabre schrieb und zeichnete mit seinem eigenen Blut, bringt doch erst der Körpereinsatz den Kampf zum Vorschein, in dem Kunst ihre Wahrheit der Welt erst abringen muss. Er verausgabte sich noch 2004 in Ritterrüstung und Langschwert beim Spiegelfechten, bis die Knochen brechen. Wie der Heilige im Martyrium den Triumph des Glaubens erfährt, lässt der geschundene Körper den Künstler Wahrheit und Schönheit erblicken. Der Vorrang der Unmittelbarkeit körperlicher Erfahrung leistet in der Kunst Abbrucharbeiten an ihren Begriffen und ihrer Geschichte. Wo aber die Begriffe schon ins Wanken geraten sind, verlieren sich diese Attacken in einem Sack voller Ironie.
Fabre reagiert 2013 darauf im distanzierenden filmischen Reenactment früher Arbeiten. Das Ende der Geschichte ist selbst Geschichte und Fabre bleibt es vergönnt, als Interpret seines eigenen Anteils daran weiterzuarbeiten. Das könnte auch in der Zukunft eine spannende Geschichte bleiben.
Impulstanzfestival Wien bis 13. 8. 2017
Ausstellung: „Jan Fabre Stigmata. Actions & Performances 1976–2016“, Leopold-Museum Wien, bis 27. 8. 2017
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