Die Netflix-Serie „Gypsy“ lässt sich viel Zeit
: Lügen haben lange Beine

Die Couchreporter Heute: Jens Müller

Ein guter Freund ist seit Jahren mit einer Pseudologin, einer pathologischen Lügnerin, verheiratet. Er hat das allerdings nicht von Anfang an gewusst, sondern erst nach und nach begriffen. Und das ganze Ausmaß ihrer sorgfältig konstruierten Lügengeschichten, ihrer nicht nur mit erfundenen Ausbildungsabschlüssen manipulierten Vita, ja ihrer parallelen Identitäten, hat er erst erfahren, als sie ihn schon verlassen hatte.

Das beschäftigt einen, aber ist natürlich privat, gehört eigentlich nicht in eine Kolumne über Fernsehserien. Neustart also:

Die Zeit, die Zeit – ist nicht nur ein Titel des Bestsellerautors Martin Suter. Die Zeit, die Zeit – ist das Pfund, mit dem die neuen, horizontal erzählten TV-Serien wuchern können. Den Vogel abgeschossen hat in dieser Hinsicht bislang die (auf Amazon Prime abrufbare) Showtime-Serie „The Affair“. Die kommt gänzlich ohne Zombies, Thronjäger und organisierte Verbrecher aus. Es geht einfach nur um das Anbändeln zweier anderweitig Verheirateter während der Sommerferien. Die Entschleunigung wird so weit getrieben, dass das bisschen Handlung in jeder Folge zweimal erzählt wird – einmal aus seiner, einmal aus ihrer Perspektive. Genial! Und nicht zu toppen.

Aber Naomi Watts kommt jetzt zumindest nahe ran. Über zehn Folgen sehen wir sie in der neuen Netflix-Serie „Gypsy“ (wie der Titelsong von Stevie Nicks, nicht Shakira oder Lady Gaga).

Sie spielt Jean, eine Frau, die ein Leben führt, von dem 99,999 Prozent der Weltbevölkerung nur träumen können. Obere Mittelschicht, ein schönes Haus irgendwo im Speckgürtel von New York. Ein Mann, eine Tochter, ein Hund – auch alle schön. Der verständnis- und liebevolle Mann ließe das Personal von „Desperate Housewifes“ oder „Big Little Lies“ erblassen, liefe man sich in Hollywood über den Weg. Apropos „liebevoll“: Die Regie hat bei den ersten beiden Folgen Sam Taylor-Johnson besorgt – seit „Fifty Shades of Grey“ Expertin Nummer eins in Sachen schwüler Hausfrauenerotik.

Jeden Morgen kommt Jean mit dem Pendlerzug in der schön renovierten Grand Central Station in Manhattan an, um sich im „Rabbit Hole“ einen Coffee to go zu holen und dann downtown in ihre schön eingerichtete Praxis zu begeben. Als Psychotherapeutin betreut sie genau drei Patienten voller Sorgen, die sie selbst nicht hat: Ein junger Mann kommt nicht über seine Ex hinweg; eine Frau fühlt sich von ihrer Tochter vernachlässigt; ein Mädchen hat ein Drogenproblem.

Es könnte so schön sein. Wäre da nicht diese Langeweile. Im Undercover-Einsatz begibt sie sich auf die Spuren, in die Leben ihrer Patienten. Die Ex des jungen Mannes, so eine New Yorker Lolita-Version, jobbt im „Rabbit Hole“. Jean gibt sich als Printjournalistin aus. Sie nennt sich Diane (nein, nicht Alice). Früher oder später wird jemand etwas von ihr lesen wollen, denkt sich der Printjournalist, der diese Zeilen schreibt. Erst nach und nach begreift er. Sie konstruiert ihre Lügengeschichten sorgfältig, brütet mit Bleistift und Papier über ihrer manipulierten Vita. Er begreift, dass er es mit einer hochgradig pathologischen Person zu tun hat. Dass er die ganze Zeit mit einer Pseudologin gefiebert hat.

In anderen Serien machen die Protagonisten eine Entwicklung durch. In „Gypsy“ ist es der Zuschauer.